KLASSENWIEDERHOLUNG : Grundschulverband: Sitzenbleiben verschwendet Lebenszeit

19. Februar 2013 // zwd Hannover (at).

Niedersachsen will Sitzenbleiben abschaffen | Die Absichtserklärung der neuen rot-grünen Landesregierung entfacht bundesweit Diskussionen um die ‚Ehrenrunde’

Nach der Entscheidung der niedersächsischen Koalition, an den Schulen des Landes mittelfristig die zwangsweise Wiederholung einer Klassenstufe abzuschaffen, ist zwischen den SPD-regierten und den unuionsgeführten Ländern die Debatte über das Sitzenbleiben neu entbrannt. Auf die Seite Niedersachsens stellten sich ausdrücklich der Grundschulverband und den Präsident der Kultusministerkonferenz, Kultusminister Stephan Dorgerloh (Sachsen-Anhalt, SPD).

Im ihrem Koalitionsvertrag zur niedersächsischen Regierungsbildung hatten SPD und Grüne das Ziel formuliert, Sitzenbleiben „durch individuelle Förderung überflüssig“ zu machen. Damit folgt das Bundesland einem sich derzeit in mehreren Ländern abzeichnenden Trend: In Berlin etwa ist Wiederholung wider Willen nur noch an Gymnasien und in Ausnahmefällen an Grundschulen möglich. In Bremen wurde Sitzenbleiben in den Klassen eins bis acht abgeschafft. In Hamburg soll das Durchfallen bis 2017 für alle Klassenstufen zur Vergangenheit gehören. Rheinland-Pfalz will einen Modellversuch zum Verzicht auf das Sitzenbleiben starten. In baden-württembergischen Gemeinschaftsschulen können die Kinder schon jetzt nicht mehr durchfallen. Der dortige Kultusminister Andreas Stoch (SPD) kündigte an, diese Regelung Schritt für Schritt auch für die übrigen Schulen durchsetzen zu wollen. Stephan Dorgerloh, Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) und Sachsen-Anhalts Kultusminister, lobte die niedersächsischen Reformpläne, denn die Ergebnisse erziehungswissenschaftlicher Forschungen zeigten, dass Sitzenbleiben zu nichts führe. Dagegen setzt Dorgerloh „auf mehr individuelle Förderung.“ Für Hamburgs Schulsenator Ties Rabe ist Sitzenbleiben „längst nicht mehr zeitgemäß“.

Unterstützung aus der Erziehungswissenschaft

Auch der Grundschulverband begrüßte die Entscheidung in Niedersachsen. Hans Brügelmann, Professor für Erziehungswissenschaften und beim Grundschulverband Fachreferent für Qualitätsentwicklung, nannte mehrere Gründe, die für eine Abschaffung des Sitzenbleibens sprechen würden. Dazu gehört unter anderem, dass Sitzenbleiben Lern- und Lebenszeit verschwende. Leistungsschwächen beschränkten sich oft auf einzelne Fächer oder Fachbereiche. Die durch das Durchfallen erzwungene Wiederholung aller Fächer verschenke Lernzeit, die besser mit einer gezielten Förderung in den schwachen Bereichen gefüllt werden sollte. Hinzu käme, dass Sitzenbleiben sich meist nicht förderlich auf die weitere Leistungsentwicklung auswirke. Nicht versetzte SchülerInnen rutschten – das war schon ein Ergebnis der ersten PISA-Studie – auch in ihrer neuen Klasse oft wieder in den unteren Leistungsbereich ab. Ursachen für schlechte Lernergebnisse seien in der Regel die Arbeitshaltung eines Schülers oder einer Schülerin sowie die Unfähigkeit zur Selbstorganisation. Derartige Schwächen könnten durch Sitzenbleiben nicht behoben werden. Sitzenbleiben sei außerdem teuer. Es wäre besser, das Geld in Fördermaßnahmen zu investieren anstatt in die Wiederholung des Schuljahres.

Konservative bestehen auf Zwangsverlängerung der Schulzeit

Die Entwicklungen in den sozialdemokratisch geführten Bundesländern werden von konservativer Seite scharf kritisiert. Der bayrische Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) erklärte den sich aktuell abzeichnenden Aufbruch zu „blankem Unsinn“ und „pädagogischem Populismus“. Man verzichte hier auf ein pädagogisches Mittel, das den Schülern die Möglichkeit biete, Versäumtes nachzuarbeiten. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, kommentierte: „Da kann man gleich eine Abitur-Vollkasko-Garantie anbieten.“ Der bildungspolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Patrick Meinhardt, und Jürgen Böhm, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR) äußerten sich in ähnlicher Weise. Prof. Brügelmann hebt jedoch in seiner Argumentation hervor, dass Abitur oder Mittlere Reife durch den Verzicht auf den Zwang zur Wiederholung einer Klasse keineswegs entwertet würden. Die Anforderungen dieser Abschlüsse „sind klar definiert und werden teilweise durch externe Prüfungen gesichert. Wer sie nicht erfüllt, verlässt die Schule mit den erworbenen Teilzertifikaten als Leistungsausweis.“

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