zwd-Interview : „Nur die Wenigsten wissen über die Sinti und Roma Bescheid“

22. Juni 2011 // zwd Berlin (mhh).

Interview mit der Vorsitzenden der Kinderkommission im Bundestag, Marlene Rupprecht (SPD), zur Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Das Interview ist Teil des Schwerpunktes der aktuellen Printausgabe BGP 05/2011.

Die Bildungssituation deutscher Sinti und Roma ist verheerend, wie eine neue Studie bestätigt. 44 Prozent haben keinen Schulabschluss, 13 Prozent besuchten trotz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft nie eine Schule. Diese Ergebnisse haben auch die Abgeordneten der Kinderkommission schockiert, bestätigte Marlene Rupprecht im Gespräch mit dem zwd. Mit Hilfe der Kommission will sie nun die Bundestagsfraktionen für das Thema sensibilisieren, um Druck auf die Bundesregierung und die Länder aufzubauen, sich der Lage der deutschen Sinti und Roma endlich anzunehmen.

zwd: Frau Rupprecht, wie sind die Ergebnisse der Bildungsstudie in der Kinderkommission aufgenommen worden?

Rupprecht: Für die Kolleginnen und Kollegen waren die Ergebnisse neu. Mit diesem Nachholbedarf im Bildungs- und Integrationsbereich bei deutschen Sinti und Roma hat niemand gerechnet. Was meiner Meinung nach aus der Studie außerdem deutlich hervorging: Wer selbst Bildung erfahren hat, achtet später darauf, dass die eigenen Kinder wieder Bildung erhalten – je früher, desto besser.

zwd: Der Initiator der Studie, Daniel Strauß, hat die Rolle der Politik in den letzten 50 Jahren als unterlassene Hilfeleistung bezeichnet. Wie kann es sein, dass bis heute nichts zur Verbesserung der Lage geschehen ist und dass die Bundestagsabgeordneten immer noch überrascht sind von der verheerenden Situation?

Rupprecht: Ich selbst habe über die Situation auch nicht Bescheid gewusst, bis ich im Jahr 2001 im Europarat einen Bericht zu dem Thema verfassen musste. Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, die alle jünger sind als ich, haben sich noch nie mit der Thematik beschäftigt. Und so geht es wahrscheinlich 95 Prozent des Parlaments. Überlegen Sie mal, wie niedrig der Anteil der etwa 100.000 Sinti und Roma an der Gesamtbevölkerung ist, auch im Vergleich zu den mehreren Millionen Migrantinnen und Migranten hierzulande. Da geht diese Minderheit einfach unter. Ich denke, da steckt weniger Boshaftigkeit dahinter, als dass das Problem einfach außerhalb des alltäglichen Bewusstseins der Menschen ist. Dazu kommt dann ein latenter Antiziganismus, den sicherlich noch jeder so ein bisschen in sich trägt. Das öffentliche Bild von Sinti und Roma ist meist negativ geprägt – zum Beispiel wenn im Fernsehen von Roma-Kindern aus Rumänien als umherziehenden Diebesbanden berichtet wird. Darunter haben auch die Sinti und Roma zu leiden, die seit langer Zeit in Deutschland leben. So ein Menschenbild zu ändern, dauert eine Weile – ohne dass ich die Problematik herunterspielen will.

zwd: Wie kann die Kinderkommission dazu beitragen, dass sich die Lage bessert?

Rupprecht: Wir können im Prinzip nur ständig nachhaken und das Thema immer wieder auf die Agenda setzen und betonen, dass das Recht auf Bildung für alle gelten muss – auch für Kinder aus verschwindend kleinen Ethnien. Da wir als Kinderkommission kein Instrument haben, diese Themen per Forderung umzusetzen, können wir nur immer wieder an diejenigen appellieren, die dafür zuständig sind. So haben wir in der Kinderkommission allerdings schon einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht.

zwd: Wer ist denn zuständig?

Rupprecht: Wir werden die Ergebnisse der Studie den Fraktionen zur Kenntnis geben und sie auffordern, sich damit auseinanderzusetzen und genau zu überlegen, wie man Abhilfe schaffen könnte. Derzeit liegen im Bundestag Anträge aller Fraktionen vor, die sich überwiegend mit der europäischen Roma-Situation befassen. Wir möchten, dass sie auch die Situation der deutschen Sinti und Roma aufnehmen.

zwd: Das ist nicht geschehen?

Rupprecht: Nein, in den Anträgen geht es überwiegend um die Situation in Staaten, wo Sinti und Roma zahlreicher vorkommen als bei uns, vor allem den neuen EU-Mitgliedsstaaten wie Rumänien oder Bulgarien. Sie beziehen sich auch auf Frankreich, wo Sarkozy mit Brachialgewalt Roma in den Kosovo zurückgeschickt hat. In Deutschland glaubt man hingegen immer, hier sei kein Handeln notwendig. Aber auch hierzulande ist nicht alles in Ordnung. Ich denke, wir haben den Blick auch nach Deutschland zu richten. Deswegen werden wir die Fraktionen bitten, dass sie ihre Anträge im Hinblick auf die Studie noch einmal überprüfen.

zwd: Herr Strauß hat die Abgeordneten sehr persönlich aufgefordert, eine Bildungskommission zu gründen und dort an einer nationalen Roma-Integrationsstrategie zu arbeiten. Wie positionieren Sie sich dazu?

Rupprecht: Ich werde dafür plädieren, in einer ganz klaren und eng gefassten Stellungnahme die Bundesregierung dazu aufzufordern, eine Integrationsstrategie zu entwickeln, wie sie die Sinti und Roma fordern. Die Bundesregierung muss deren Forderung übernehmen und überlegen, wie eine Strategie umgesetzt werden kann.

zwd: Die Entwicklung eines Aktionsplanes ist aus Ihrer Sicht also Aufgabe der Bundesregierung?

Rupprecht: Zumindest sollte sie anregen, dass sich die Ministerpräsidenten der Länder zusammentun, und sich auch die Kultusministerkonferenz mit der Thematik beschäftigt. Bisher scheint man in der Regierung jedoch nicht unbedingt bereit zu sein, eine eigene Strategie zu entwickeln. Ich denke, das liegt daran, dass auch dort die Kenntnisse fehlen. Die wenigsten Regierungsmitglieder wie auch die wenigsten Fraktionsmitglieder – egal welcher Fraktion übrigens – wissen über die Situation der Sinti und Roma in Deutschland Bescheid. Wir hoffen, dass wir das ändern können, um so die eine oder andere Blockade zu lösen.

zwd: Ist die Entwicklung einer nationalen Roma-Integrationsstrategie bis Ende des Jahres, wie von der EU gefordert, überhaupt noch realistisch?

Rupprecht: Ein Zeitplan ist immer gut, damit man nicht ewig ins Blaue hineinarbeitet, aber ich denke, es wird mehr Vorarbeit brauchen als bis zum Ende des Jahres.

Interview: Markus Hanisch

mehr zur Bildungssituation deutscher Sinti und Roma in der aktuellen Printausgabe BGP 05/2011

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