zwd Berlin/Vilnius. Aus dem Bericht des EIGE wird ersichtlich, dass die EU den durchschnittlichen Wert für die bisher erreichte Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Vergleich zu 2017 nur um 1,2 Punkte auf insgesamt 67,4 (von 100) erhöhen konnte. 100 Punkte würden die tatsächlich durchgesetzte Parität der Geschlechter markieren. Die unangefochtene Top-Position belegt wie schon zuvor Schweden mit 83,6 Punkten, gefolgt von Dänemark mit 77,5 Punkten. Sogar in Bereichen, in denen die meisten EU-Staaten relativ schwache Punktzahlen aufweisen, stechen die beiden Länder mit hohen Werten hervor und überbieten den EU-Durchschnitt um bis zu rund 20 (Dänemark) bzw. 30 Punkte (Schweden). Die Bundesrepublik liegt mit 66,9 Punkten knapp unterhalb des EU-Mittelwertes. Am wenigsten ist es seit dem Beginn der EIGE-Studien im Jahr 2005 Griechenland und Ungarn gelungen, das Ideal gleichberechtigter Verhältnisse zu verwirklichen. Sie erreichten in der Bewertung des Instituts für Gleichstellung jeweils lediglich 51,2 bzw. 51,9 Punkte. Der Index fasst den Umfang der über eine Reihe wichtiger Parameter bemessenen Gender-Gleichstellung in einer Größe zusammen und bildet somit die geschlechtsbezogenen Diskrepanzen in den EU-Mitgliedsländern insgesamt wie auch nach spezifischen Gebieten aufgefächert ab.
"Gleichstellung der Geschlechter muss an Fahrt aufnehmen"
„Wir bewegen uns in die richtige Richtung, sind aber immer noch weit vom Ziel entfernt“, kommentierte die EIGE-Direktorin Virginija Langbakk die Ergebnisse. Fast die Hälfte der Mitgliedsstaaten der EU falle unter die 60-Punkte-Marke, sagte sie. Daher sei es laut Langbakk mit Blick auf den vom neuen EU-Parlament und der Kommission aufzustellenden Strategierahmen „unerlässlich“, dass der Prozess der Gleichstellung der Geschlechter an Fahrt aufnehme. Mit einem EU-Durchschnitt von lediglich 51,9 Punkten weist der Bereich "Macht" den mit Abstand geringsten Messwert auf. Der Fokus der Untersuchung richtete sich dabei auf die Gleichberechtigung der Geschlechter bei Entscheidungsprozessen. Hier konnten die genderpolitischen Ziele in der EU am wenigsten verwirklicht werden. Allerdings verzeichnet die Entwicklung in diesem Feld auch die größten Erfolge: EU-weit stieg der Index-Wert seit 2015 um 13 Punkte, gegenüber 2017 um 3,4 Punkte an.
Gleichberechtigung bei der Macht am wenigsten verwirklicht
Fast drei Viertel der seit 2015 in der Domäne der Macht erzielten Errungenschaften hinsichtlich der Gleichheit der Geschlechter sind darauf zurückzuführen, dass Ansehen und Einfluss von Frauen in diesem Bereich zugenommen haben und Führungspositionen gleichmäßiger auf die Geschlechter verteilt sind. Die Spitzenposition im Ranking belegte wieder Schweden mit 83,4 Punkten, Deutschland liegt bei nur 56,6 Punkten. Der relativ hohe Zuwachs auf diesem Gebiet ist laut EIGE darauf zurückzuführen, dass Frauen inzwischen vermehrt in den Unternehmensvorständen sitzen. Die Anteile von Frauen an der Macht sind in den verschiedenen Unterbereichen ungleich groß. In der Politik machen sie sich stärker geltend. Hier sind Frauen häufiger an politischer, ökonomischer und sozialer Macht (EU-weit: 55,0 Punkte) beteiligt und übernehmen mehr Führungsrollen als auf dem Gebiet der Ökonomie (48,6 Punkte). Das trifft auch auf Deutschland zu, das immerhin in der politischen Sphäre einen Wert ca. 15 Punkte über dem Mittelwert erzielte, bei der Ökonomie jedoch nur rund einen Punkt den EU-Durchschnitt überschritt. Schweden hat in der traditionell männlich besetzten Domäne der Politik mit 95,1 Punkten nahezu paritätische Verhältnisse hergestellt. Frankreich, in dem als einzigem EU-Land beide Geschlechter zu mindestens 40 Prozent in Vorständen von Unternehmen vertreten sind, belegte auf dem Feld der Wirtschaft im EU-Vergleich den obersten Rang.
Der Bereich "Arbeit und Berufe", von EIGE EU-weit mit 72,0 Punkten bewertet, veranschaulicht die insgesamt nur schrittweise und nur sehr allmählich sich vollziehende Verbesserung bei der Geschlechtergerechtigkeit. Hier stieg der errechnete Index-Wert seit 2005 um insgesamt 2,0, seit 2015 um nur 0,5 Punkte. EIGE untersuchte den Gender Gap im Arbeitsleben über Parameter wie Beteiligung am Beschäftigungsmarkt ebenso wie Diskriminierung bei den Löhnen, stereotype Berufswahl und Unterschiede bei Qualifizierung und Teilzeitarbeit. Während EIGE Schweden 83,0 Punkte zuerkannte, überbot Deutschland das EU-Mittel um lediglich 0,1 Punkt. Italien belegt mit 63,1 Punkten den niedrigsten Rang.
Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als Grundlage für mehr Gender-Gerechtigkeit
„Geschlechterungleichheit hindert Europa an der Entfaltung seines vollen Potenzials“, unterstrich Verá Jourová, EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucher und Gleichstellung, die Bedeutung von EIGE und seiner Aufgabe, die Gender-Gleichstellung in den Ländern der EU zu stärken. Die neue „Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben“ (EU 2019/1158) werde für Frauen und Männer eine andere, verbesserte Grundlage schaffen, um das Betreuen von Kindern und die Pflege von Angehörigen geschlechtergerechter zu regeln und damit Frauen eine berufliche Tätigkeit und Karrieren bis in Führungsetagen zu ermöglichen, sagte sie. Bei der Verteilung der Pflichten auf die Geschlechter im Bereich Betreuung und Pflege errechnete EIGE einen EU-Durchschnitt von 70,0, den Schweden um über 20 Punkte überschritt. Deutschland lag mit 71,3 Punkten nur knapp über dem Mittelwert, Portugal rangierte mit 32,6 Punkten auf der untersten Position.
Einen besonderen Schwerpunkt der diesjährigen Analyse von EIGE bildete die von Jourová angesprochene „Work-Life-Balance“, d.h. die Frage, wie gut sich für beide Geschlechter Beruf und Privatleben in Einklang bringen lassen. Wichtige Parameter dabei stellen der Anspruch auf Elternzeit und der Zugang zu kostengünstiger Kinderbetreuung dar. EU-weit ist es 28 Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer verwehrt, nach der Geburt von Kindern Elternurlaub zu nehmen. In 12 der 28 EU-Staaten haben Mütter und Väter nach Ablauf der Elternzeit zwar ein Anrecht auf Kinderbetreuung, doch in einigen dieser Länder, darunter Estland, Deutschland und Ungarn, sind solche Dienstleistungen nicht problemlos verfügbar. Das wirkt sich zumeist negativ auf das Berufsleben von Frauen aus und zieht dementsprechend eine ungleiche Beteiligung der Geschlechter am Arbeitsmarkt nach sich. Bei der Bildung, das mit durchschnittlich 63,5 Punkten die zweitschlechtesten Resultate aufweist, stellte die EIGE-Studie immer noch anhaltende Differenzen zwischen Frauen und Männern fest.
Stagnation oder Rückschläge bei der Bildung
Obwohl es EU-weit unter den 30- bis 34-Jährigen mehr weibliche (46 Prozent) als männliche (36 Prozent) Absolvent*innen gibt, verbesserten sich die Werte in den vorigen zwölf Jahren nur um 2,7 Punkte. Insgesamt weist EIGE auf die - gemessen am strategischen Rahmen der EU - allgemein geringen Beteiligungsraten hinsichtlich der formalen wie nicht-formalen Bildung und Weiterbildung sowohl als auch beim lebenslangen Lernen von Erwachsenen hin. Während in der Mehrheit der Mitgliedsländer die Zahlen auf dem Gebiet der Bildung stagnierten, mussten Länder wie Großbritannien, Deutschland und Dänemark sogar Rückschläge hinnehmen: Bei ihnen ergaben sich im Vergleich zu 2015 Differenzen in Höhe von - 5,4 (Großbritannien), - 1,6 (Deutschland) und - 1,4 Punkten (Dänemark). Ursachen dafür sind EIGE zufolge in der weiterhin fortbestehenden deutlichen Kluft zwischen den Geschlechtern zu finden, die sich z.B. bei der Wahl der Studiengänge immer noch bemerkbar mache. Hier entscheiden sich lediglich 33 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer für Fachbereiche, die nicht Geschlechterrollen-konform sind, d.h. aus der Domäne von Bildung und Wohlfahrt im Fall der männlichen und von Naturwissenschaften und Technik im Fall der weiblichen Studierenden. Während Schweden mit 73,8 Punkten auch hier im Ranking an der Spitze lag, unterbot Deutschland den EU-Mittelwert sogar um fast 10 Punkte.
Auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen konstatiert die EIGE-Analyse einerseits eine in der gesamten EU schwache Datenlage und andererseits Rückschritte bei den Frauenrechten. In einigen der Mitgliedsländer verhinderten EIGE zufolge Opponenten gendergerechter Politik die verlangte Durchsetzung der Forderungen der Istanbul-Konvention - mit dem Effekt, dass auf diese Weise die politischen und gesetzlichen Maßnahmen, Gewalt an Frauen zu bekämpfen, unterlaufen würden. Die meisten Opfer von Femiziden verzeichnete das Institut in Lettland mit durchschnittlich 1,55 von Verwandten oder Intimpartner*innen umgebrachten Frauen pro 100.000 weiblichen Personen. In Deutschland lag die Rate bei 0,58 Opfern. Das Land mit der geringsten Zahl von weiblichen Opfern tödlich verlaufener Gewalt war die Slowakei mit 0,2 Frauen. Frauen bilden mit 68 Prozent innerhalb der EU auch den weitaus größten Anteil der Opfer von Menschenhandel, deren Anzahl insgesamt auf 7.007 betroffene Personen anstieg.
Quelle Bild im Text: EIGE