NATIONALER BILDUNGSBERICHT 2024 : Bündnis für Bildungswende - GEW: Mehr Mittel für sozial Schwache

20. Juni 2024 // Ulrike Günther

Das überregionale Bündnis Bildungswende JETZT! fordert von der Politik aktive Schritte, um die Bildungskrise zu bekämpfen. Die Kritikpunkte – Personalmangel, soziale Ungleichheit, Unterfinanzierung - bestätigt der nationale Bildungsbericht. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) drängt auf eine Trendwende, für SPD, GEW, Linke sind mehr Investitionen, Hilfen für sozial Schwache und Kooperation zentral.

Das Bündnis zur Bildungswende demonstriert für Chancengerechtigkeit.  -  Bild: GEW.
Das Bündnis zur Bildungswende demonstriert für Chancengerechtigkeit. - Bild: GEW.

zwd Berlin. Das Bündnis aus Eltern, Schüler:innen, Lehrkräften und Erzieher:innen hat am Donnerstag eine von mehr als 106.000 Personen und Organisationen unterzeichnete Petition an den Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), den hessischen Regierungschef Boris Rhein (CDU), übergeben. Darin fordert die Interessensgruppe Bund und Länder, Parlament und Kultusministerkonferenz (KMK) auf, aktive Schritte für ein gerechtes, nachhaltigeres Bildungssystem zu unternehmen. „Wir brauchen ein bundesweites, verlässliches Programm für die Aus- und Weiterbildung von Pädagogen“, erklärte der Co-Sprecher der Initiative Markus Sänger, die Bundesländer müssten „gemeinsam handeln“. Der Vize-Vorsitzende der GEW Dr. Andreas Keller betonte auf der Veranstaltung vor der hessischen Landesvertretung in Berlin, die „Bildungsmisere“ gehöre "ganz oben auf die politische Agenda“, die Ministerpräsident:innen sollten sie „zur Chefsache machen“.

Bündnis: Bildungssystem soll auf Herausforderungen vorbereiten

Das Bildungswende-Bündnis konstatiert in seinem u.a. von GEW, DGB und Grundschulverband unterstützten Aufruf eine der „schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik“ und appelliert an die Politiker:innen, die Voraussetzungen für inklusive Bildung zu schaffen, die gleichzeitig zukunftsfähig ist. Als Hauptprobleme benennen die Aktivist:innen einen sich weiter vergrößernden Personalmangel an Schulen und Kitas sowie Bildungserfolge, die immer noch „maßgeblich von der sozialen Herkunft“ abhängig sind. Das Bündnis warnt vor den Konsequenzen: Starker sozialer Einfluss auf Bildung verfestige „die Spaltung unserer Gesellschaft“ und beschädige „das Vertrauen in die Demokratie“, heißt es in dem Schreiben. Darüber hinaus müsse das Bildungswesen auch auf Herausforderungen, wie die Klimakrise, vorbereiten und entsprechende Kompetenzen vermitteln. Das Bündnis kritisiert, dass zahlreiche Mahnungen durch die Zivilgesellschaft bisher kein Umlenken bei den politischen Entscheidungsträger:innen bewirkt hätten. Sogar das von der Bundesregierung 2008 selbstgesteckte Ziel, jährlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung (7 Prozent) und Forschung (3 Prozent) zu investieren, sei bis jetzt nicht erreicht.

Um die Bildungskrise zu lösen, müsse man nach Ansicht der Gruppierung das überbeanspruchte System entlasten und die Personen beteiligen, die mit dem Alltag an Schulen und Kitas konfrontiert sind. Im Einzelnen empfahl die Initiative u.a. an Schüler:innen orientierte Lehrpläne, die Freiräume für deren „intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklung“ ermöglichen, gemeinsam gestaltete Schulentwicklung, eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte und Erzieher:innen, ein Sondervermögen für die Bildung in Höhe von 100 Mrd. Euro und einen vom Bundeskanzler mit den Länderchef:innen einberufenen Bildungsgipfel, an dem - anders als auf dem Bildungstreffen im März 2023 - Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und Bildungspraktiker:innen beteiligt sind.

Soziale Herkunft bestimmt Bildungschancen

Neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) belegen den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsverlauf. Demnach ist die Chance für Kinder aus Akademikerfamilien auf einen Hochschulabschluss fast dreimal so hoch wie für Kinder von Eltern ohne Studium. Wie Destatis mitteilte, hatten 56 Prozent aller 25- bis unter 65-Jährigen mit mindestens einem Elternteil mit Hochschulzeugnis 2021 selbst ein Studium absolviert, hingegen bloß 19 Prozent derjenigen, deren Mütter und Väter maximal über eine Berufsausbildung oder das Abitur verfügten. Unter Personen mit formal gering qualifizierten Eltern, die höchstens Haupt- oder Realschule abgeschlossen hatten, betrug der Anteil der Hochschulabsolvent:innen sogar nur 12 Prozent.

Stark-Watzinger setzt sich für „Trendwende“ ein

In den Ergebnissen des nationalen Bildungsberichtes 2024 erkennt das Bildungswende-Bündnis ein „Zeichen für den dringenden Handlungsbedarf“ aufseiten der Bundes- und Länderregierungen. Erneut habe eine großangelegte Studie den „desolaten Zustand unseres Bildungssystems“ gezeigt, erklärte Sprecher:in Charlie Löbner. Dass Bildung in der Bundesrepublik trotz über Jahre sich häufender, ähnlicher Hinweise durch die Politik immer noch nicht Priorität eingeräumt bekomme, bezeichnete Löbner als „Skandal“. Bildungsministerin Stark-Watzinger sieht das Bildungswesen „vor großen Herausforderungen“. Man brauche „dringend eine bildungspolitische Trendwende“, hob sie anlässlich der Veröffentlichung des Berichtes am 17. Juni hervor. Dafür sei ein „Perspektivwechsel“ von der Kita bis zum Ausbildungsbetrieb nötig, ebenso wie "Bildungsinstitutionen, die Vielfalt als Chance begreifen“.

Streichert-Clivot: Pakt für Bildung soll Berufseinstieg erleichtern

Das Startchancen-Programm wertet Ministerin Stark-Watzinger – ähnlich wie KMK-Präsidentin Christine Streicher-Clivot (SPD) - als Mittel, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu verwirklichen, die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung als Maßnahme, das Ausbildungssystem zu stärken. Streichert-Clivot verlangte, „das Versprechen des sozialen Aufstiegs für Jugendliche“ ehrgeiziger zu erneuern. Die Startchancen würden dementsprechend Einrichtungen unterstützen, eine „moderne(), attraktive() Lernumgebung“ wie geeignete pädagogische Angebote zu gestalten und multiprofessionelle Teams auszubauen. Laut Bildungsbericht 2024 erhöhten sich die Bildungsausgaben innerhalb von zehn Jahren bis 2022 zwar um 46 Prozent (auf 264 Mrd. Euro), der Anteil am BIP stieg im selben Zeitraum jedoch lediglich um 0,2 Prozent auf 6,8 Prozent. Als ein Beleg für die angespannte Personalsituation könne u.a. die Tatsache gelten, dass von ca. 35.000 neu eingestellten Lehrkräften 2023 12 Prozent ihre Tätigkeit als Seiteneinsteiger:innen, d.h. ohne absolviertes Lehramtsstudium, antraten.

Mit Blick auf die zunehmende Menge junger Erwachsener ohne formale Qualifikation unterstrich die KMK-Präsidentin Streichert-Clivot, dass man über den – im Mai gestarteten – Pakt für berufliche Schulen beabsichtige, in Zusammenarbeit mit dem Bundesbildungsministerium (BMBF) Lösungen zu finden, um jungen Menschen einen leichteren Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Mit rund 52.300 Jugendlichen, die 2022 die Schule ohne Abschlusszeugnis verließen, stieg die Abbrecher:innenquote auf 6,9 Prozent der Gleichaltrigen (2013: 5,7 Prozent). Überdies hätten die Länder nach Angaben von Streichert-Clivot bei der Neuausrichtung der KMK in Völklingen am 14. Juni neue Optionen für das Lehramt eröffnet, z.B. für „Ein-Fach-Lehrkräfte“, Absolvent:innen sog. „Quereinstiegs-Masterstudiengänge und dualer Studiengänge“. Der Bildungsbericht erscheint im Abstand von zwei Jahren und wird auf der Grundlage amtlicher Statistiken und von Studien durch eine unabhängige Wissenschaftler:innengruppe unter Leitung des DIPF – Leibniz-Instituts für Bildungsforschung erstellt.

GEW: „Deutlich mehr Geld investieren“

„Die Entkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft scheint für Deutschland ein schier unlösbares Problem“, kommentierte die linke Bildungspolitikerin Nicole Gohlke die Studienergebnisse. Sie bemängelte das Fehlen „einheitliche(r) Standards“ und eines „einheitliche(n) Vorgehen(s) der Bundesländer“. Die Vorsitzende der GEW Maike Finnern mahnte, man müsse „deutlich mehr Geld in das Bildungssystem investieren, das seit vielen Jahren erheblich unterfinanziert ist“. Vor allem „arme Kinder und deren Familien sowie Bildungseinrichtungen in herausfordernder Lage“ sollten auf diese Art Unterstützung erfahren, „um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg“ aufzubrechen. Das Startchancen-Programm sei dabei zwar „ein richtiger, aber eben nur ein erster (…) Schritt.“

Dem Bericht zufolge erhöhte sich bis 2022 die Anzahl der Bildungsteilnehmer:innen von der Kita bis zur Hochschule seit 2012 um 7 Prozent auf 17,9 Mill., 30 Prozent der Erwachsenen verfügten über höhere berufliche oder akademische Abschlüsse. Doch bloß knapp ein Drittel (32 Prozent) der Kinder mit sozioökonomisch benachteiligtem Hintergrund erhielt im Schuljahr 2021/ 22 eine Empfehlung fürs Gymnasium, im Verhältnis zu 78 Prozent der Kinder aus privilegierten Familien. Insgesamt lag der Anteil der formal gering Qualifizierten zwischen 25 und unter 65 Jahren 2022 bei 17 Prozent, 40 Prozent der Personen mit gering qualifizierten Müttern und Vätern hatten selbst keinen Berufsabschluss, verglichen mit nur 3 Prozent der Kinder aus akademischen Elternhäusern (Destatis).

Die Linke: Kooperationsgebot aufheben

Wie das Bündnis zur Bildungswende erachtet Linken-Politikerin Gohlke es für geboten, ein „100-Milliarden-Euro-Paket für die Bildung“ aufzulegen. Wer für eine „Gesamtstrategie für Bildung“ eintrete, dürfe sich „der Aufhebung des Kooperationsverbots“ und einer im Grundgesetz verankerten „Gemeinschaftsaufgabe Bildung“ nicht versperren. GEW-Vorsitzende Finnern schlug außerdem vor, das Bildungssystem müsse „seine Leistungen weiterentwickeln“, um Migrant:innen besser integrieren zu können. Das gelte einerseits für Kinder, die in Schulen und Kitas von Anfang an Bildung bräuchten, doch auch für Erwachsene, die z.B. im pädagogischen Bereich in ihrem Herkunftsland Qualifikationen erworben haben. Daher sollte man die Verfahren zur Anerkennung vereinfachen. „Angesichts des riesigen Fachkräftemangels im Bildungsbereich ist es unverantwortlich, das vorhandene Potential nicht zu nutzen“, so Finnern.

2023 gab es mit ca. 456.000 Personen wieder mehr Neu-Azubis im dualen Berufsbildungssystem, das Vor-Corona-Level wurde jedoch noch nicht erreicht. Im Vergleich zu 2020 studierten mit rund 2,870 Mill. etwas weniger Menschen an Hochschulen (- 75.000). Nach Schätzungen der KMK fehlen bis 2035 knapp 24.000 allgemeinbildende Lehrer:innen. Berücksichtigt man gesellschaftliche Entwicklungen oder pädagogische Ziele, wie den angestrebten Ganztagsausbau und mehr gemeinsames Lernen, werde nach Aussagen des Berichts bis dahin vermutlich eine Lücke von 85.000 bis 165.000 Lehrkräften entstehen. In Kitas nahm die Anzahl pädagogischen Personals zwischen 2013 und 2023 stetig um 39 Prozent zu. Dennoch prognostiziert die Untersuchung wegen erhöhter Nachfrage für Westdeutschland bis 2030 einen Mangel an 51.000 bis 88.500 Betreuer:innen, während der Bedarf in Ostdeutschland durch neu ausgebildete Fachkräfte bis 2035 gedeckt sei.

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