zwd Berlin. Am 23. März 1933 ermächtigte der Berliner Reichstag gegen die Stimmen der zuletzt einzig verbliebenen sozialdemokratischen Opposition die nationalsozialistische Reichsregierung unter Adolf Hitler, ohne Einschaltung des Parlaments Gesetze zu erlassen. Es war das Ende des Rechtsstaates. Die Lektüre des Protokolls dieser Sitzung wie auch der Sitzung am 26.05.1933 sind für mich beschämende und zugleich beklemmende Zeugnisse des Niedergangs der parlamentarischen Demokratie wie der schamlosen Machtergreifung. Das Auftreten der NS-Schergen in der Kroll-Oper (die als der Ersatzstätte für den abgebrannten Reichstag diente) erinnert mich in fataler Weise an aktuelle Auftritte der AfD im Bundestag. Ebenso denke ich an von deutsch-nationalen Politikern angeführten martialisch agierenden Neonazi-Kohorten, die deutsche Landschaften verunsichern und 2018 ähnlich wie 1933 von der völkischen Machtergreifung träumen.
Gewiss haben wir noch keine „Weimarer Verhältnisse“. Unser parlamentarisches System, das auf dem demokratischen Bewusstsein einer großen Mehrheit von Wähler*innen basiert, ist stark genug, um rechtspopulistischen Machenschaften entgegenzutreten. Aber nicht zu verkennen ist, dass mit Hilfe großer Geldsummen vom Ausland her der Versuch unternommen wird, unser demokratisches System in Deutschland – wie auch in Europa insgesamt – zu destabilisieren. In diesem Sinne sind die selbsternannten Lebensschützer ein willkommenes Werkzeug und Teil einer weltweit vernetzten Kampagne. Die Art, wie sie gegen Ärztinnen vorgehen, die ihrem Beruf ausüben und in diesem Rahmen auch Abtreibungen vorzunehmen bereit sind, erinnert doch schon an die Machenschaften der braunen Horden vor 1933. Umso wichtiger ist es, den unseligen Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches endlich zu streichen: Dabei geht es nicht nur darum, der Kriminalisierung von Mediziner*innen unmissverständlich entgegen zu treten, und auch nicht allein darum, Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper zuzugestehen.
Wesentlich scheint mir zudem, dass der § 219a aktuell instrumentalisiert wird, um ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten und, wie die wachsende Zahl von Anzeigen gegen Ärztinnen zeigen, zu schüren. Auch 1933 diente die Neuregelung der Paragrafen 219 und 229 RStGB dazu, ein solches Klima zu erzeugen. Insofern ist ein Blick in die Geschichte wichtig. Dankenswerter Weise haben der Deutsche Juristinnenbund (djb) sowie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (WD) einige Fakten hierzu aufbereitet, sodass sich kein Mitglied des Bundestages mehr darauf zurückziehen kann, davon nichts gewusst zu haben (WD 3 – 3000 – 159/17).
§ 219a ist ein Gesetzgebungsprodukt in der Folge des NS-Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933
Es war eben jenes Ermächtigungsgesetz „zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das es der Reichsregierung zwei Monate nach dem 23. März 1933 – am 26. Mai 1933 – erlaubte, unter anderem eine Änderung des Reichsstrafgesetzbuches in Kraft zu setzen, mit der zwei neue Paragrafen – 219 und 220 – geschaffen wurden (Wortlaut nebenstehend). Die Regelungen blieben im Wesentlichen auch nach dem Ende des Dritten Reiches bestehen, heißt es in dem Sachstandsbericht des Dienstes unter Hinweis auf die nach 1945 gegebene Begründung, dass den Vorschriften zum Werbeverbot „kein spezifischer NS-Gehalt zugeschrieben wurde“. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz vom 04.08.1953 wurden die im Kriegsjahr 1943 vom NS-Regime veränderten Bestimmungen wieder in die Fassung vom 26.05.1933 gebracht. Mit dem 5. Gesetz zur Änderung des Strafrechts vom 18.06.1974 wurden die Regelungen der §§ 219 und 220 in einem § 219a – in der heute geltenden Fassung – zusammengefasst. Hierzu resümiert der Wissenschaftliche Dienst auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien, „dass der Gesetzgeber das Anbieten von Abtreibungen mit Blick auf das geschützte Rechtsgut der §§ 218 ff. StGB weiterhin als strafwürdiges Unrecht wertete“. Eine Umwandlung in einen Bußgeldtatbestand sei im Vergleich zu §§ 6, 44 Arzneimittelgesetz – die bereits das Inverkehrbringen von ¬gesundheitsschädlichen Arzneimitteln als Strafe bewertete – als nicht vertretbar gewertet worden. Vielmehr sei es dem Gesetzgeber darum gegangen, durch die Vorschrift zu verhindern, dass der Schwangerschaftsabbruch „als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“. Die Darstellung des Wissenschaftlichen Dienstes endet mit der Feststellung, dass § 219a auch bestehen geblieben sei, als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1975 die Fristenregelung aufhob, und ebenso, „als der Gesetzgeber im Jahr 1995 die nunmehr bestehende nicht-rechtfertigende Fristenlösung mit Beratungspflicht einführte“. Allerdings muss kritisch bewertet werden, dass der 2017 gefertigte Sachstandsbericht des Wissenschaftlichen Dienstes die bekannten – juristischen – Gegenargumente gegen die unzeitgemäß gewordene Regelung des § 219a schlicht ausgeblendet ließ.
Stattdessen resümierte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Rahmen einer weiteren Ausarbeitung zur Fragestellung, ob der Straftatbestand des § 219a mit dem Grundgesetz vereinbart sei: „Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 219a ist nicht bekannt“ (WD 3 – 3000 – 252/17). In dem Sachstandsbericht wird zwar anerkannt, dass § 219a in die Berufsfreiheit von Ärzt*innen eingreift. Die Zulässigkeit dieses Eingriffs wird aber unter Hinweis auf ein Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 13.01.2006 (sic!) bejaht, wonach gemäß Artikel 12 Abs. 1 Grundgesetz die Ausübung des Berufs durch Gesetz geregelt werden könne. Explizit hieß es in jenem Urteil: „Eine einschränkende Auslegung dieser Vorschrift dahingehend, dass sachliche Informationen eines Arztes über seine Bereitschaft zum Schwangerschaftsabbruch erlaubt sind, scheitert am eindeutigen Wortlaut des § 219a“. Auch das Amtsgericht Gießen hat am 24. November 2017 erneut die Verfassungsmäßigkeit des § 219a bejaht – eine Auffassung, der sich auch das Landgericht Gießen im Jahr 2018 angeschlossen hat.
Kristina Hänel, die betroffene Gießener Ärztin, hat angekündigt, durch alle Instanzen zu gehen, d.h. sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch den Europäischen Gerichtshof mit diesem Urteil zu befassen. Sie dürfte gute Chancen haben, erfolgreich zu sein. Denn für Verfassungsexpert*innen weckt bereits die Entstehungsgeschichte von § 219a „nicht unerhebliche Zweifel daran, dass sich diese Norm bruchlos in die aus dem 1990er Kompromiss folgende Gesamtregelung zum Schwangerschaftsabbruch integrieren lässt.“ Diese Argumentation des Deutschen Juristinnenbundes zielt darauf ab, dass seit diesem Kompromiss Schwangerschaftsabbrüche durch Ärztinnen und Ärzte unter bestimmten Bedingungen rechtmäßig oder gar nicht erst tatbestandsmäßig seien. Wenn der Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar sei, dann sei wenig nachvollziehbar, warum sachliche Informationen über diesen strafbar sein sollten.
In seiner Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Recht und Verbraucherschutz am 27. Juni 2018 stützt sich der Juristinnenbund bei seiner Einschätzung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 219a zudem auf den Wortlaut eines Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006, in dem es heißt: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine ¬Dienste in Anspruch nehmen können.“ (1 BVR 1060/02 bzw. 1 BVR 1139/03)1.
Woraus zweifellos folgt, dass der Paragraf 219a in seiner heutigen Version sicherlich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht Stand halten wird – falls es dazu kommt. Dafür spricht nicht nur, dass das Verbot der Sachinformation über Schwangerschaftsabbrüche, wie der Juristinnenbund schreibt, „aus der Zeit gefallen“ ist: „Die Norm entspricht nicht dem in den 1990er Jahren gefundenen und rechtsverbindlich gewordenen Kompromiss, wonach Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen rechtmäßig und tatbestandslos sind. Sie ist dreißig Jahre vor den fundamentalen Änderungen im Recht von Ärztinnen und Ärzten zur Information über ihre beruflichen Tätigkeiten und lange vor den weitreichenden Veränderungen durch das Internet und die digitalisierte Informationsgesellschaft konzipiert worden.“ Insofern ist nach Einschätzung des Juristinnenbundes zu hinterfragen, ob § 219a nicht unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit von Ärzt*innen eingreift. Zudem wird darauf verwiesen, dass Ärzt*innen bei der Darstellung ihrer beruflichen Tätigkeit standesrechtlichen Regelungen, dem Heilmittelwerbegesetz und dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb unterliegen, weshalb es des „schärfsten Schwertes des Rechtsstaates“ nicht bedürfe. Nach Beurteilung des Juristinnenbundes sind die Regelungen des § 219a außerdem unvereinbar mit Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit) und stellen auch eine Verletzung des Gebots der Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2,3 des Grundgesetzes dar. Schließlich sei § 219a aus dem rechtsvergleichenden internationalen Blickwinkel (CEDAW, WHO-Richtlinien) wie auch als Unikat im europäischen Rechtsraum mehr als fragwürdig. Im Ergebnis plädiert der djb für eine Streichung von § 219a aus dem Strafgesetzbuch und hält eine Neuregelung zur Deckung des verbleibenden Regelungsbedarfs („grob anstößige“ Thematisierung) im Recht der Ordnungswidrigkeiten für sachgemäß.
Der Niedergang der SPD wird sich im profillosen Mitmachspiel mit der Union weiter beschleunigen
Bleibt die Frage, ob die Sozialdemokratie gut beraten ist, den von fünf Mitgliedern der Bundesregierung nach monatelangem Tauziehen zwischen SPD und Union ausgehandelten Kompromiss zur Wahrung des Koalitionsfriedens mitzutragen. Der § 219a war nicht geeignet, auch nur eine einzige Abtreibung zu unterbinden. Aber er war und bleibt geeignet, ein Klima der Angst zu erzeugen. Immer mehr Ärzt*innen sorgen sich, an den Pranger gestellt zu werden. Wenn einige Frauen an der Spitze der SPD glauben, mit diesem Kompromiss einen Nebenkriegsschauplatz befrieden zu können, dann könnten sie sich irren. Eher ist davon auszugehen, dass der Niedergang der SPD im profillosen Mitmachspiel mit der Union weiter beschleunigt wird.
Frauen, die der SPD in den letzten Jahren den Rücken gekehrt haben, werden nicht zurückzugewinnen sein, denn sie werden kaum übersehen können, dass die SPD-Fraktionsspitze nicht nur den eigenen bereits im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaffung des § 219a aus Gründen der Koalitionsräson gegenüber den Unionsparteien zurückgenommen hat, sondern auch, dass sie keinen ernstlichen Versuch unternommen hat, die Mehrheit im Bundestag auszuschöpfen. Der taktisch durchsichtige Versuch von FDP-Chef Lindner, mit einem Antrag die Bundesregierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Strafrechtsparagrafen vorzulegen, hätte ja durchaus als Gelegenheit für einen Test der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag herhalten können. Schließlich wäre es lediglich um eine Aufforderung an die Bundesregierung gegangen, einen Gesetzentwurf zur Streichung des § 219a vorzulegen.
Nun ist noch nicht aller Tage Abend. Das von Katarina Barley (SPD) geführte Bundesjustizministerium muss erst einmal mit den von der Union geführten Bundesministerien einen juristisch verfassungsfesten Gesetzentwurf aushandeln und präsentieren. Das wird schon keine leichte Sache, wenn die Ressorts zu einer einheitlichen Abstimmung kommen wollen. Die Koalitionsfraktionen haben die Vorlage dann „zu bewerten“. Das Ergebnis wird unter dem Blickwinkel der Verteidigung des sozialen und demokratischen Rechtsstaates zu wägen sein. Und glücklicherweise haben wir nicht Weimarer Bedingungen, unter denen die progressiven Kräfte sich sogar untereinander nicht „grün“ sind. Noch scheint es so, dass es eine Mehrheit im Bundestag gibt, in der SPD, Linke, Grüne und FDP gegen die Fürsprecher*innen der Beibehaltung des Nazi-Paragrafen zusammenstehen könnten. Insofern wird das Tauziehen um die Zukunft des § 219a die Politik und die Parlamente mindestens in den ersten Monaten des neuen Jahres beschäftigen. Und ausschließen lässt sich auch nicht, dass die Entscheidung darüber mehr ist als die Beseitigung eines Nebenkriegsschauplatzes: nämlich einer von mehreren Sprengsätzen für die GroKo.