Die Gleichsetzung von jung und proeuropäisch ist nicht selbstverständlich
Rund 1,5 Millionen junge Menschen werden im Alter von 16 Jahren im Juni 2024 das erste Mal in Deutschland zu den Europawahlen wahlberechtigt sein. In ganz Europa dürfte diese Zahl bei über 12 Millionen liegen. Wir dürfen gespannt sein, wie viele dieser jungen Menschen sich in der Lage sehen und motiviert fühlen, ihr Votum für eine Partei bei diesen Wahlen abzugeben. Und wir müssen wohl mit Sorge annehmen, dass die lange gehegte Gleichsetzung von jung und pro-europäisch sich nicht derart klar niederschlagen wird, wie es für die europäische Demokratie und deren länderübergreifende Stärkung notwendig ist. Gerade jetzt, in Zeiten von anschwellendem Nationalismus und Demokratieverweigerung. Immerhin haben nach den Ergebnissen der Shell-Jugendstudie Jugendliche, die das Abitur anstreben, zu 61 Prozent ein positives Bild von der Europäischen Union, bei Realschülern sind es dagegen nur noch 37 Prozent. Aus den regelmäßigen Untersuchungen zum Wahlverhalten von jungen Gewerkschaftsmitgliedern ist leider, zumal in den neuen Bundesländern, eine überproportionale Bereitschaft zur Wahl der AfD zu erkennen. Und auch andere Untersuchungen lassen befürchten, dass gerade das nicht-akademisch ausgerichtete Milieu zunehmende Anteile an distanzierten bis ablehnenden Stimmungen und Haltungen zu Europa und seiner Zukunftsgestaltung aufweist.
Mehr Europa heißt: Mehr tun für den Austausch junger Menschen in der praktischen Berufsausbildung
Leider hat das an sich wirklich großartige Erasmus-Programm, das seit 36 Jahren über 13 Millionen jungen Menschen Zeiten zum Lernen und Entdecken und Leben im europäischen Ausland ermöglicht hat, immer noch einen großen Mangel an jungen Menschen in einer praktischen Berufsausbildung. Für die Studierenden gibt es starke Netzwerke von europäischen Hochschulen, die für die ganz anders strukturierte Berufsausbildung und die Arbeitswelt von jungen Berufstätigen noch fehlen. Hier muss auf europäischer Ebene dringend nachgearbeitet werden, mit Partnerschaften von Betrieben, mit längeren Praktikumszeiten, mit mehr Werbung und Aufklärung durch die Wirtschaft und die Gewerkschaften, mit besserer Finanzierung. Das kann aber für die aktuell anstehenden Europawahlen nicht schnell genug helfen.
Europabildung auf allen schulischen Wegen braucht eine neue Bildungsstrategie
Da muss in Zukunft schon früher angesetzt werden. Zu einem Wahlrecht mit 16 gehören mehr Europa lernen und leben vor 16. Hier ist der Blick nachdrücklich auf die schulische Bildung in allen Schulwegen, und nicht nur den gymnasialen zu richten. Wir brauchen mehr Europa-Schulen mit einem besonderen europäischen Profil und wir benötigen eine nachhaltige KMK-Strategie für eine Europa-Bildung in den Schulen. Die Strategie von 1978 wurde 2008 dramatisch verspätet überarbeitet. So wie Europa sich ändert, muss auch die Bildungsstrategie in Zukunft kontinuierlich beforscht, überprüft, erneuert werden.
Der europäische Bildungsraum 2025 braucht mehr Europa-Lehrer
Notwendig sind mehr Europa-Lehrer, die aus einem anderen europäischen Land kommend an unseren Schulen unterrichten. Zwei Prozent in Deutschland sind hier viel zu wenig, um echten europäischen Spirit und gelebte europäische Biographien und Mehrsprachigkeit in unsere Schulen hineinzutragen. Auch muss es doch allen zu denken geben, dass sich die Gruppe der Lehramtsstudierenden immer noch besonders selten in anderen Ländern an den Hochschulen einschreibt. Und die avisierten 25 europäischen Erasmus-Akademien für Lehrende dürfen auch gerne bald wirksam werden, wenn denn der europäische Bildungsraum 2025, den die aktuelle Kommission zu Beginn ihrer Amtszeit deklariert hat, zügig vorankommen soll.
Zielorientierung für die nächsten Europawahlen 2029: Die Förderung von mehr europäischer Jugendidentität
Den Jugendlichen in Europa wird jetzt mit 16 das Tor zur politischen Mitbestimmung und Mitgestaltung geöffnet. Das spricht für viel Zutrauen und Vertrauen in deren demokratische Identifikation und Kompetenz. Aber was wir hier von den jungen Menschen erwarten, muss in den Politiken in Europa, im Bund und in den Ländern erst recht einen nachhaltigen Ausdruck finden. Werben wir also mit Fakten, Emotionen und gutem Vorbild für das Wahlrecht mit 16 im Juni 2024 und nehmen wir schon jetzt das Jahr 2029 mit klaren Prioritäten und Arbeitsaufträgen in den Blick.
Im Übrigen: Wem das zu schulisch und zu pädagogisch daherkommt. Die Europäische Union und die Nationalstaaten können auch in anderer kreativer Weise Europa, seine Kultur und seine Vielfalt den jungen Europäern zugänglich machen. Europa mit dem Zug durch 33 Länder ist eine großartige Sache und der Interrail-Angebot weiter ausbaufähig. Die mögliche Ausdehnung des 49-Euro-Tickets über die nationalen Grenzen hinweg ist dies ebenso. Und auch die Jugendkarte des Europarates ist nicht zu vergessen. Der Kulturpass, in Frankreich höchst erfolgreich mit einer Beteiligung von 93 % aller jungen Heranwachsenden unter 18 Jahre, und gleichgerichtete Vorhaben in Italien und Spanien rufen förmlich nach einer europäischen Kooperation. Deutschland hat jetzt nachgezogen.
Die Begegnung über und mit Kultur, Kunst, Kreativität für die Förderung einer europäischen Jugendidentität kann jedenfalls gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auch dieses Potential steht im Juni in Europa zur Wahl. Und wird dann Auftrag für die nächsten fünf Jahre.