Seit dem 23. Februar ist die Ära der sozialdemokratischen Kanzlerschaft Olaf Scholz Geschichte. Wie von den Meinungsumfragen vorausgesagt, bescherte das Wahlvolk der ehemals großen Volkspartei das schlechteste Bundestagswahlergebnis seit 1949 (das bisher schlechteste war 2017 mit 20,5 Prozent). Die Gründe liegen sicherlich nicht nur in der Person des "unbeliebtesten" Bundeskanzlers, sondern auch in der Rolle der Partei und ihrer Kampagnenführung. Deren Führungsspitzen haben nach dem mit 13,9 Prozent schlechtesten Abschneiden der SPD bei der Europa-Wahl 2024 (jemals seit 1979; bisher 2019: 15,8%) trotz des damals schon absehbaren Desasters bei der Bundestagswahl 2025 nicht die Kraft zu einer Neuaufstellung der Partei gefunden.
Natürlich hat es hinter den Kulissen vielleicht Bemühungen gegeben, Olaf Scholz zum Rückzug zu bewegen. Der beharrte uneinsichtig auf seiner Story, er allein könne wie schon 2021 die Stimmungslage zugunsten seiner Partei drehen. Was für eine "Ich"-Bezogenheit und Ignoranz gegenüber der Realität! Das Glück, das ihm 2021 unverhofft beschert wurde, resultierte nicht aus seiner damaligen Stärke und einer SPD-Performance. Scholz profitierte vielmehr von der Schwäche des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet und von den "Schmutzeleien" des CSU-Chefs Markus Söder. Auf derartige Wahlhilfe erneut zu hoffen, war vermessen. Mit der Migrationsdebatte ist es der Union (ohne wirkliche Gegenwehr der SPD) zudem gelungen, ihr Wahlprogramm vor der Öffentlichkeit nicht wirklich rechtfertigen zu müssen.Die SPD hat sich viel zu sehr auf das Narrativ der Merz-Union eingelassen.
Fehler nach der Zeitenwende
Das hätte nicht sein müssen. Als das "Fortschrittsbündnis" von SPD, Grünen und FDP 2021 antrat, waren die Folgen von Corona noch nicht überwunden, erschienen aber besiegbar. Dann kam der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Scholz versprach eine "Zeitenwende" und 100 Milliarden Euro für die Wiederaufrüstung der Bundeswehr. Mag der Ex-Finanzminister und damalige Bundeskanzler zunächst noch geglaubt haben, die Anforderungen der "Zeitenwende" ließen sich auf ein Sondervermögen für die Bundeswehr eingrenzen, so wurde doch bald unverkennbar, dass der Zustrom von einer Million Flüchtlingen aus der Ukraine – neben den anderen Flüchtlingen – nicht mehr aus der Portokasse, also aus dem regulären Bundeshaushalt zu bewältigen waren. Doch der Kanzler hat die problematische Finanzentwicklung in Deutschland unter dem Motto weiterlaufen lassen – mit dem Selbstverständnis, es werde schon alles gut gehen. Das war angesichts des Finanzbedarfs auch zur Erneuerung der heruntergekommenen Infrastruktur im Lande eine grundlegend fatale Fehleinschätzung.
Es brauchte nicht nur eine Zeitenwende bei der Bundeswehr, sondern auch für viele unbewältigte Aufgabenstellungen im Land. Spätestens, als die Auswirkungen der Zuströme von Flüchtlingen die Kommunen zu überfordern begannen, wäre es angesagt gewesen, die Reformagenda von Rot-Grün-Gelb neu zu formulieren. Das hätte auch darauf hinauslaufen können, anstelle der widerstrebenden Kräfte in der Ampel-Koalition (Lindner [FDP] gegen Habeck und Baerbock [Grüne] eine neue große Koalition mit den Unionsparteien zu bilden. Ein solches Regierungsbündnis wäre sicherlich nicht einfacher gewesen als die Fortsetzung der Ampel, aber es hätte zu einer Mehrheit im Bundestag geführt, die sich nicht in überflüssigen öffentlichen Streitereien und Profilierungsbedürfnissen selbst beschädigt hätte. Scholz hat das viel zu lange zugelassen. Und die Quittung dafür, dass er Lindner nicht sehr viel früher entlassen hat, wird ihm und derPartei bitte rschmecken. Er hat – trotz vieler positiver Aktivposten – das Image des gescheiterten Kanzlers nicht abstreifen können.
Muss sich die SPD neu erfinden?
Ja und nein. Statt nach dem Bruch der Ampel überhastet das Heil in kurzfristig angesetzten Neuwahlen zu suchen, hätte die SPD (Partei und Fraktion) erst einmal verschiedene Möglichkeiten künftigen Regierens prüfen sollen. Sowohl eine Minderheitsregierung bis zum regulären Wahltermin als auch das Angebot, einen neuen sozialdemokratischen Bundeskanzlers mit einer neuen Koalition zu präsentieren, hätten auch noch nach dem Ampel-Bruch hätten eine Option sein können. [Zur Erinnerung: 1966 hat die Unionsfraktion ihren unbeliebt gewordenen Kanzler Ludwig Erhard kurzerhand durch Kurt Georg Kiesinger ersetzt und anstelle der FDP mit der SPD eine Große Koalition gebildet.]
Mit fast jedem anderen SPD-Kanzler hätten die Karten neu gemischt werden können. Die Nibelungentreue der Parteiführung und auch der SPD-Bundestagsfraktion zum Kanzler war so ehrenhaft wie falsch. Vielen SPD-Genoss:innen war bewusst, dass mit Scholz keine Wahl zu gewinnen war. Der Frust in den Ortsvereinen, der Basis der SPD, und die geringe Motivation zum Wahlkampf dort waren unüberhörbar. Trotzdem wirkte die Parteiführung wie gelähmt. Keine Orientierung: Was wird mit dem versprochenen Aufbruch in ein sozialdemokratisches Jahrzehnt (bis 2030)? Chancengleichheit, Gleichstellung, Bildungsaufbruch: Wo blieb die durchaus vorzeigbare Leistungsbilanz der drei Ampel-Jahre?
Weiter so, sich retten in eine neue Koalition?
Nach dem Strickmuster von 2017 – "wir haben alle gemeinsam verloren" – droht erneut, dass die SPD-Verantwortlichen versuchen könnten, ohne Aufarbeitung und Rückbesinnung in eine Regierung unter CDU-Führung einzutreten, das sei besser als "Oppositions-Mist". Das mag ja sein, muss aber nicht. Der Griff des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil (heute) nach dem Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion wie auch das Beharren von Saskia Esken auf dem Parteivorsitz lassen eher ein „Weiter so“ befürchten.
Es geht nur anders: Denn noch haben wir eine (wenn auch von den Wähler:innnen abgewählte, aber gleichwohl) handlungsfähige Bundesregierung. Insofern sollte die SPD erst einmal bei sich selbst anfangen, sich personell und mit Blick auf das nächste Jahrzehnt bis 2035 inhaltlich neu aufzustellen. Dazu gehört nicht nur ein Sonderparteitag, sondern auch: Mut statt Kleinmut. Meinungsführerschaft anstreben, anstatt von Meinungsumfragen getrieben zu sein. Und zukunftsfähige Botschaften zu setzen, die den Glauben an die Rolle an eine sozialdemokratische Volkspartei zurückgeben. Das ist gerade jetzt mehr denn je geboten, nachdem Trump und seine rechtsradikalen Milliardäre Anlauf genommen haben, durch Unterstützung der AfD die deutsche Demokratie zu beschädigen und durch netzbasierte Kampagnen und Fake-News rechtsnationalen Extremisten die Türen zur Macht zu öffnen. Denn noch haben wir eine (wenn auch von den Wähler:innnen abgewählte, aber gleichwohl) handlungsfähige Bundesregierung. Und Friedrich Merz sollte noch ein bisschen warten können.