zwd Berlin/ Gütersloh. Aus dem heute (22. Juli) von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten Factsheet zur Untersuchung geht hervor, dass 21,3 Prozent aller bundesdeutschen Kinder oder 2,8 Millionen Minderjährige 2018 in armutsgefährdeten und sozial schwachen Verhältnissen lebten. Zwei Drittel dieser Kinder sehen sich nach Angaben der Studie über Jahre hinweg mit prekären Lebensbedingungen konfrontiert. Rund 14 Prozent aller unter 18-Jährigen wachsen in Familien auf, in denen die Eltern Arbeitslosengeld (ALG) II beziehen, mehr als 7 Prozent sind aufgrund des geringen Einkommens der Erziehungsberechtigten von Armut bedroht.
Der seit einem Jahrzehnt fast unverändert hohe Anteil von materiell unterversorgten Kindern in der Bundesrepublik bleibe ein ungelöstes, in den gesellschaftlichen Strukturen verankertes Problem, urteilen die Autor*innen der Studie. Die Corona-Krise verschärfe die Situation noch. Schon jetzt zeichne sich nach Aussagen der Forscher*innen ab, dass sowohl die Kinder- und Familienarmut als auch die Ungleichheit bei der Bildung weiter zunehmen wird. Sozial schwache Familien würden die Folgen von steigender Arbeitslosigkeit und Kurzarbeiter-Regelungen verstärkt zu spüren bekommen, da die Eltern häufiger geringfügig, befristet oder in Leiharbeit beschäftigt seien. Grundlage der Analyse bildet die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung jährlich durchgeführte repräsentative Panelbefragung „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“, welche anhand zahlreicher, z.T. kinderspezifischer Einzelkriterien den materiellen Lebensstandard und die soziale Teilhabe untersucht.
SPD möchte eine Kindergrundsicherung einführen
Dass Kinder in Armut leben und dann meist ihr ganzes Leben lang sozial benachteiligt sind, hält die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Katja Mast für inakzeptabel. „Kein Kind sollte sich darüber sorgen, dass das Geld für den Sportverein, den Klassenausflug oder den Kindergeburtstag nicht reicht“, sagte sie anlässlich der Veröffentlichung der Studie. Deshalb setzen sich die Sozialdemokrat*innen/ für eine Kindergrundsicherung ein. Demnach sollen Familien für jedes ihrer Kinder „eine auskömmliche Geldleistung“ erhalten, und es soll nach Aussagen von Mast ein „starkes öffentliches Angebot“ geben, das allen Kindern und Jugendlichen gerechte Bildung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Von den unter 15-Jährigen lebten der Studie gemäß 2018 rund 22 Prozent in sozial unterprivilegierten Verhältnissen, 2014 waren es ca. 23 Prozent. Am stärksten von Kinderarmut betroffen sind in allen Landesteilen die Alleinerziehenden. Über 45 Prozent der Kinder in Familien, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II erhalten, leben bei einem alleinerziehenden Elternteil. In den ostdeutschen Bundesländern werden knapp 50 Prozent, in Westdeutschland fast 44 Prozent der Kinder aus Familien im SGB II-Bezug nur von Mutter oder Vater erzogen. Für Kinder, die mit Hilfen aus der Grundsicherung unterstützt werden, weist die Studie nach, dass sie Im Verhältnis zum Lebensstandard der Gesamtbevölkerung insbesondere in den Bereichen von Freizeit, sozialer Teilhabe und Mobilität unterversorgt sind.
Grüne und Linke fordern Politik zum Handeln auf
Grüne und Linke prangern die Politik der Bundesregierung an und werfen ihr das Versäumnis vor, über Jahre nicht gehandelt und diesen Missstand nicht behoben zu haben. Anstatt weiterhin bloß „die Kinderarmut (…) zu verwalten“, sei eine Gesamtstrategie erforderlich, welche für alle Kinder ein Aufwachsen in sozial gesicherten Verhältnissen gewährleistet und sich verstärkt an ihren Bedürfnissen ausrichtet, erklärte die kinderpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Katja Dörner.
Wie SPD und Linke sieht sie in einer Kindergrundsicherung ein Mittel, um dem Problem der Kinderarmut Abhilfe zu verschaffen. Das Geld müsse automatisch und ohne ein kompliziertes Antragsverfahren an die Familien fließen, so Dörner. Um sozial unterprivilegierte Familie vor den in der Krise sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten zu schützen, verlangen die Grünen, ALG II beziehende Eltern mit einem monatlich um 60 Euro erhöhten Kindergeld zu helfen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch warnte davor, dass sich die Gesellschaft infolge der Krise weiter spalten könnte. Es brauche „eine nationale Kraftanstrengung, um Kinderarmut entschlossen zurückzudrängen und Familien besser zu unterstützen“.
Auch die Liberalen zeigten sich beunruhigt über die Ergebnisse der Studie. Der kinderpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Matthias Seestern-Pauly wertete die vorgelegten Zahlen zur materiellen Unterversorgung von Kindern als Beleg dafür, dass die Fördergelder nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Er mahnte daher ein Umdenken bei den Hilfsleistungen für Kinder und Familien an. Seestern-Pauly warb seinerseits für ein „Kinderchancengeld“, das ähnlich wie die Modelle der Kindergrundsicherung von SPD, Linken und Grünen die Leistungen nach Einkommen der Eltern und Alter der Kinder staffelt.