„Endlich Halbe/Halbe. Frauen haben ein selbstverständliches Anrecht auf Teilhabe an politischer und wirtschaftlicher Macht.Erst wenn das Ziel erreicht ist, sind wir in Deutschland in guter Verfassung“, so Jutta Limbach (SPD), die ehemalige Präsidentin des BVerfG 2014 im Bundesjustizministerium. Zu Recht. In guter Verfassung sind wir auch 100 Jahre nach Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts von Frauen in Deutschland (30.11.1918) nicht – im Gegenteil. Derzeit sind nur 30,9 % der Abgeordneten des Bundestages Frauen – so wenig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Wahlberechtigt waren 61,5 Millionen Deutsche, davon 31,7 Millionen Bürgerinnen, das sind 51,5 % des wahlberechtigten Volkes.
Ähnlich die Zahlen in den 16 Landtagen, im Durchschnitt finden sich dort etwa 30 % Frauen. Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen sind sogar rückläufig, so liegt der Frauenanteil in NRW nur noch bei 27 % - gleich hinter Baden-Württemberg, dem Bundesland mit dem schon immer geringsten Frauenanteil von aktuell 24,5 %. In Baden-Württemberg wird ohne Kandidatenliste gewählt. In keinem anderen Bundesland haben Frauen so wenig politische Mitsprache wie dort.
Die Schwachstelle ist nach wie vor das passive Frauenwahlrecht. Nur wenn Frauen von den Parteien nominiert werden, können sie vom Volk auch gewählt werden. Das Frauenwahlrecht war von ihren Protagonistinnen nie so verstanden worden, dass Frauen nur ihr aktives Wahlrecht ausüben und brav zur Wahlurne schreiten sollten, um dort diejenigen zu bestätigen, die ohnehin schon das Sagen hatten – staatstragende Männer... . Es ging den Frauen von Anfang an um ihre gleichberechtigte demokratische Teilhabe und effektive Einflussnahme im Parlament, dem maßgeblichen Staatsorgan in der repräsentativen Demokratie. Denn ihnen war klar, hier wurden und werden die für alle „verbindlichen Spielregeln“ in Form von Gesetzen beschlossen.
Erst durch das Gleichberechtigungsgrundrecht in Art. 3 Abs. 2 GG wurde 1949 das aktive und passive Wahlrecht von Frauen und damit ihr gleichberechtigter Zugang zu politischer Partizipation nach Ende der Nazidiktatur, die nicht nur rassistisch war, sondern auch sexistisch, wieder verfassungsrechtlich gesichert – verbunden mit der verfassungsrechtlichen Erwartung und Forderung nach realer Chancengleichheit und tatsächlich gleichberechtigter demokratischer Teilhabe von Frauen in der Politik. Diese Erwartung hat sich bislang nicht erfüllt. Denn es fehlt an tatsächlicher Chancengleichheit von Kandidatinnen, vor allem in „traditionellen“ Parteien, die von Männern nach wie vor dominiert werden. Die fehlende Chancengleichheit von Frauen wird von Politikerinnen und Politikern verschiedener Parteien schon lange nicht mehr in Abrede gestellt. So erklärte Günther Verheugen, SPD (Ex-FDP) und EU-Kommissar a.D. schon 1980: „(...) das krasse Missverhältnis zwischen männlicher und weiblicher Repräsentanz in den Parlamenten ist ja nicht das Ergebnis einer entsprechenden Wahlentscheidung, sondern es kommt daher, dass Frauen bei der Aufstellung von Wahlbewerbern bereits diskriminiert sind. Dies und die daraus resultierenden Folgen widersprechen dem Grundsatz der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit.“
Der Grund liegt in den Nominierungsverfahren der meisten Parteien. Vor allem die „traditionellen“ Parteien fallen in Bund und Ländern durch ihre Männerdominanz auf. Dass der Anteil der Parlamentarierinnen nach der Bundestagswahl 2017 nicht noch weiter abgerutscht ist, liegt an den Parteien, die zumindest ihre Kandidatenlisten nach internen paritätischen Satzungsregelungen (50%) aufstellen und Frauen und Männern etwa hälftig nominieren: Bündnis 90/Grüne, Linke und auch die SPD – wenn auch bei der SPD noch Optimierungspotential besteht (40%). Es sind diese drei Parteien die letztlich dafür sorgen, dass der Anteil weiblicher Abgeordneter im Bundestag seit 1998 zumindest bei etwa 30 % stagniert – eine positive Entwicklung ist nicht erkennbar. Der „legendäre“ Frauenanteil von 36,5 % im vorherigen Bundestag war ein Ausreißer nach oben, weil eine stark männerlastige Partei, die FDP, nicht in den Bundestag eingezogen war .
Ohne die o.g. Satzungsregelungen würde es weitaus schlechter aussehen. Bis 1972 waren weibliche Abgeordnete kaum vertreten: Der Anteil männlicher Abgeordneter lag 1957 bei fast 90 % (89,3 %), 1972 sogar bei fast 100 % (94,2 %). Erst 1987 erreichten Parlamentarierinnen einen Anteil von mehr als 10 %, 1990 erstmals 20 % und seit 1998 dann 30 %. Ihre seither stagnierende Zahl aber macht deutlich: Die internen Regelungen von nur drei Parteien, die sich zudem ausschließlich auf Kandidatenlisten beziehen und nicht auf die Nominierung in den Wahlkreisen, reichen nicht aus, um die Anzahl der Parlamentarierinnen weiter zu steigern.
Betrachtet man die Zahlen der Kandidaturen für die Bundestagswahlen 2017, so zeigt sich, dass unter den 4.828 nominierten Personen gerade einmal 29% Frauen zu finden waren. Ihr Anteil an den Direktkandidaturen lag sogar nur bei 25 %. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass es überhaupt fast 31 % Frauen in den Bundestag geschafft haben. Schließlich können nicht vorhandene Kandidatinnen vom Volk, das auf die personelle Vorauswahl durch die Parteien keinen Einfluss hat, auch nicht gewählt werden.
Die Zahlen sprechen dafür, dass die internen Nominierungsverfahren ohne paritätische Steuerung durch das Satzungsrecht dazu führen, überproportional viele Kandidaten zu nominieren, unter Verzicht auf Kandidatinnen – also für eine strukturelle Bevorzugung von Kandidaten und eine strukturelle Benachteiligung, Diskriminierung, von Kandidatinnen. Hier sind seit Jahren faktische „Männerquoten“ von mehr als 80 % erkennbar.
Inzwischen spricht sogar das BVerfG (2015) von der “strukturellen Benachteiligung von Frauen in der Politik“. Es ist diese strukturelle Benachteiligung, die zu mangelnder Chancengleichheit von Kandidatinnen bei der Aufstellung von Wahlvorschlägen im Vorfeld von Wahlen führt. Daher fordern inzwischen auch Politikerinnen wie Rita Süßmuth, CDU,Bundestagspräsidentin a.D., gesetzliche Regelungen für die paritätische Nominierung, um die Chancengleichheit von Kandidatinnen bei allen Parteien herzustellen.
Denn es ist erkennbar, dass das geltende Wahlrecht trotz seiner geschlechtsneutralen Formulierung parteiinterne Nominierungsverfahren ermöglicht und begünstigt, die Frauen ausbremsen und ihre Kandidaturen verhindern. Es fehlt im Hinblick auf die passive Wahlgleichheit an der tatsächlichen Chancengleichheit von Kandidatinnen, die vom Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 GG aber vorausgesetzt und gefordert wird.
Elisabeth Selbert (SPD) kritisierte die Unterrepräsentanz von Frauen 1981 deutlich: „Die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist doch schlicht Verfassungsbruch in Permanenz.“
Infolgedessen wird das Volk, d.h. die wahlberechtigten Bürgerinnen, mit ihren gesellschaftspolitischen Perspektiven und Interessen nicht angemessen in den Parlamente repräsentiert und „gespiegelt“. Den Bürgerinnen fehlt die Möglichkeit, auf staatliche Entscheidungen „effektiv Einfluss“ zu nehmen - ein weiteres verfassungsrechtliches Problem. Denn das Demokratiegebot („Volkssouveränität“), Art. 20 GG, fordert die „effektive Einflussnahme“ des (Wahl-)Volkes, die laut BVerfG erforderlich ist, um die demokratische Legitimation zwischen Bürgerinnen, Bürgern und Staatsgewalt zu vermitteln – anderenfalls fehlt den Herrschenden die demokratische Legitimation. Dass das Volk erkennbar aus Bürgerinnen und Bürgern besteht, hat das BVerfG jüngst im NDP-Urteil (2017) zum Ausdruck gebracht: “Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs.und Abs. 2 GG)”.
Das unausgeglichene Männer-Frauen-Verhältnis wirkt sich auf die Qualitätpolitischer Entscheidungen aus. Aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation von Frauen und Männern machen beide Gruppen unterschiedliche (geschlechtsspezifische) Erfahrungen, sie entwickeln unterschiedliche Blickrichtungen und Interessen und setzen unterschiedliche gesellschaftspolitische Prioritäten. Es ist kein Geheimnis, dass der Gesetzgeber immer wieder gesetzliche Regelungen zu Lasten von Frauen trifft, die später wegen „mittelbarer Diskriminierung“ vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt werden. So diskriminierte zB der Versorgungsabschlag für ehemals Teilzeitbeschäftigte nach dem BeamtenVersorgungG Frauen mittelbar. Ist diese Erkenntnis neu? Nein, sehr klar bereits 1980 Heiner Geißler, u.a. ehem. Generalsekretär der CDU: „... die Benachteiligungen der Frauen ... sind das Resultat einer Politik, die sich im Wesentlichen am Mann orientiert.“
100 Jahre nach Inkrafttreten des Frauenwahlrechts, sind nun in verschiedenen Bundesländern Entwicklungen im Gange, die ein paritätische Wahlrecht auf den Weg bringen wollen, um gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen in der Politik wirksam vorzugehen:
Bayern: Bayerische Juristinnen wurden 2014 selbst aktiv, auf die Politik wollten sie nicht länger warten. Sie gründeten in München das „Aktionsbündnis Parité in den Parlamenten“ und reichten 2016 eine Popularklage beim BayVerfGH ein, um das bayerische Wahlrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Gerügt wurde die fehlende Chancengleichheit von Kandidatinnen im Nominierungsverfahren der Parteien, die Begünstigung struktureller Diskriminierung von Kandidatinnen durch das geltende Wahlrecht sowie die dadurch verursachte mangelnde effektive Einflussnahme von Bürgerinnen, insbesondere auf den Landtag. Am 26.3.2018 wies der BayVerfGH die Klage ab und legte auf 73 Seiten eine rein formal-rechtliche Betrachtung zugrunde, ohne die Rechtswirklichkeit einzubeziehen. Zudem hielt das Gericht u.a. einen „geringeren Schutz“ des Gleichberechtigungsgrundrechts von Frauen und Männern nach Art. 118 Abs. 2 BV im Vergleich zu Art. 3 Abs. 2 GG als „Mindestgarantie“ für möglich – was letztlich heißt, dass künftig ein bisschen Diskriminierung von Frauen (oder auch von Männern) in Bayern verfassungsrechtlich denkbar wird. Es erstaunt nicht, dass gegen diese Entscheidung inzwischen eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt wurde. Nun besteht die Chance, in Sachen „paritätisches Wahlrecht“ mit Hilfe des BVerfG größere Klarheit zu gewinnen (2 BvR 834/18).
In Bayern hat die SPD-Fraktion die Diskussion über eine paritätische Reform des Wahlrechts aufgegriffen und am 5.12.2017 die Eckpunkte eines neuen paritätischen Wahlgesetzes für die Landtagwahlen vorgestellt, das sich zunächst nur auf die Kandidatenlisten bezieht. Es soll 2018 eingereicht werden. Die Entscheidung des BayVerfGH steht nicht entgegen, das Gericht hat ausdrücklich offen gelassen, ob eine gesetzlich vorgegebene paritätische Kandidatenliste verfassungsgemäß wäre – es kommt auf die konkreten Regelungen an.
Brandenburg: Hier hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 22.2.2018 ein umfassendes Paritätisches Wahlgesetz eingereicht (Listen und Wahlkreise), das Gesetzgebungsverfahren läuft (LT Drs. 6/8210) – in Kürze wird die Expertenanhörung im Landtag stattfinden.
Berlin: In Berlin erklärten die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und Linke am 28.2.2018 im Abgeordnetenhaus, die Einführung eines Parité-Gesetzes zu prüfen (Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 18/0868).
Thüringen: Die Regierungsfraktionen Die Linke, SPD und Grüne haben angekündigt, ein Parité-Gesetz für die Landtagswahlen einzubringen – der Gesetzentwurf befindet sich derzeit in der internen Abstimmung.
Baden-Württemberg: Trotz Ankündigung im grün-schwarzen Koalitionsvertrag fehlt es immer noch an einer paritätischen Reform des geltenden Wahlrechts. Da die CDU-Fraktion die Koalitionsabsprache seit Januar 2018 boykottiert, gilt die notwendige Wahlrechtsreform inzwischen als gescheitert. Effektiv wäre hier eine Wahlrechtsreform, die sich allein an dem französischen Modell der „Kandiatenduos“ orientierte, das in Frankreich 2013 für Departementwahlen eingeführt wurde. Danach sind die Parteien verpflichtet, in jedem Wahlkreis ein Duo zu nominieren, bestehend aus je einer Kandidatin und einem Kandidaten. Die Wählerinnen und Wählern wählen mit ihrer Stimme also ein Duo. Das Duo mit der höchsten Stimmzahl ist gewählt und gewinnt den Wahlkreis. Vorausgehen könnte eine Wahlkreisreform, um eine Verdopplung der Anzahl der Mandate zu vermeiden. Die 70 Wahlkreise müssten lediglich neu zugeschnitten und auf 35 beschränkt werden. Eine zusätzliche Kandidatenliste, die bislang so viel Aufregung und Ablehnung bei der CDU verursacht hat, wäre dann gar nicht mehr erforderlich (BW wählt ohne Kandidatenliste).
Bund: „Parité“ ist inzwischen zum Thema auf der Bundesebene geworden. Die neue Generalsekretärin der CDU, Frau Kramp-Karrenbauer, hat am 1.3.2018 in der FAZ den geringen Frauenanteil im Bundestag kritisiert, eine Diskussion über eine Wahlreform gefordert, das paritätische Wahlrecht nach dem Vorbild Frankreichs betont und von einem „Paritätsgesetz“ gesprochen.
Wahlprüfbeschwerde: Größere verfassungsrechtliche Klarheit kann auch mit Hilfe einer Wahlprüfbeschwerde (WP 224/17) erlangt werden, die gegen das Ergebnis der letzten Bundestagwahl 2017 von mehreren Wählerinnen und Wählern eingelegt wurde - wegen des geringen Frauenanteils im Bundestag. Gerügt wurde die fehlende Chancengleichheit von Kandidatinnen, die Begünstigung struktureller Diskriminierung von Kandidatinnen durch das BWahlG sowie die mangelnde effektive Einflussnahme von Bürgerinnen. Sollte der Bundestag die Beschwerde abweisen, was zu erwarten ist, wäre der Weg frei zum BVerfG. Das BVerfG prüft dann auf der 2. Stufe das gesamte Wahlverfahren, auch das zugrundeliegende Wahlrecht, in Hinblick auf mögliche Verstöße gegen das GG.
Fazit: Die Forderung nach paritätischen parlamentarischen Verhältnissen entspricht einem modernen europäischen Demokratieverständnis. Die EU-Kommission hat schon 2013 von den Mitgliedstaaten geeignete gesetzliche Maßnahmen gefordert, um ein ausgeglichenes Männer-Frauen-Verhältnis in den nationalen Parlamenten zu garantieren. Daran hapert es in Deutschland immer noch, obgleich gesetzliche Paritätsregelungen möglich wären.
Heute gibt es keinen Zweifel mehr, dass die Zeit für Veränderungen 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland gekommen ist. Oder, um es mit Rita Süßmuth (CDU, 2017) zu sagen:
„Schluss mit den Tripelschritten: (...) Wo keine Quote besteht, bleibt es bei einem geringen Frauenanteil, sowohl an Mandaten als auch an Führungspositionen. (...) Wir müssen endlich aus dieser Bettelei herauskommen: Ach gebt uns doch wenigsten (...) 30 Prozent! Nein: wir wollen die Gleichbehandlung mit 50 Prozent."
Dr. Silke Ruth Laskowski ist Professorin für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht mit Schwerpunkt Umweltrecht an der Universität Kassel. Gemeinsam mit der Rechtsanwältin Christa Weigl-Schneider und unterstützt vom „Aktionsbündnis Parité in den Parlamenten“ reichte sie 2016 beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof die mittlerweile abgewiesene Popularklage zur geschlechterparitätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts in Bayern ein.