Obwohl im Grundgesetz ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet ist, lasse sich daraus noch kein Anspruch auf dementsprechende Sozialleistungen für mittellose Studierende herleiten. So entschied nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seinem am 30. Oktober veröffentlichten Beschluss zur Klage einer Frau, welche die Höhe ihrer erhaltenen BAföG-Leistungen 2014/2015 als verfassungswidrig beanstandet hatte. Das BVerfG sieht im Sinne der Gewaltenteilung den Rechtsstaat nicht in der Verantwortung, materiell schwache Studierende abzusichern. Stattdessen sei es Aufgabe der Bundesregierung, auf Entwicklungen im Sozialsystem zu reagieren, die dementsprechenden Gelder bereitzustellen oder eben zurückzuhalten, sollten sie an anderer Stelle „dringender“ gebraucht werden. Die Konsequenz daraus benannte das BVerfG selbst: Wem das Geld zum Studieren fehlt, der solle sich halt einen Zweitjob suchen oder das Studium für eine bezahlte Ausbildung abbrechen.
„Zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben“
Die GEW erkannte den Beschluss des Verfassungsgerichts an und mahnte die Bundesregierung, in Sachen BAföG-Reform nun nicht „die Hände in den Schoß zu legen“. Der Stellvertretende GEW-Vorsitzender Andreas Keller bewertete den Beschluss des 1. Senats als Enttäuschung, da vom Gericht das Grundrecht auf eine menschenwürdige Existenz und Berufswahlfreiheit sehr restriktiv ausgelegt worden sei. Andererseits sieht Keller aufgrund des Gerichtsbeschlusses nun die Bundesregierung gefordert: „Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich den sich aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ergebenden verfassungsrechtlichen Auftrag des Staates zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen hervorgehoben und den politischen Ermessenspielraum von Bundestag und Bundesregierung betont“.
Der aktuelle BAföG-Bedarfssatz liegt mit 475 Euro auch nach der letzten Erhöhung noch immer beinahe 100 Euro unter dem Wert für das Bürgergeld und damit 100 Euro unter dem Existenzminimum – wobei gerade einmal zwölf Prozent überhaupt BAföG erhalten – Keller nannte das „zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben“. „Die Bundesregierung sollte daher für eine kräftige Erhöhung des BAföG und eine regelmäßige Anpassung der Bedarfssätze in einem transparenten und sozialstaatlichen Verfahren sorgen“, verlangte Keller nach dem Beschluss des BVerfG. „Darüber hinaus muss sie mit einer Wohnpauschale, die den explodierenden Mietpreisen in den Hochschulstädten Rechnung trägt, sicherstellen, dass sich Studierende ein Dach über dem Kopf leisten können.“
Gesellschaftliche Hürden verkleinern
Ähnlich reagierte das Deutsche Studierendenwerk auf den Beschluss: Die BAföG-Wohnkostenpauschale von 380 Euro pro Monat reiche in so gut wie keiner deutschen Hochschulstadt mehr für ein WG-Zimmer, ein Drittel aller Studierenden müssen laut DSW mit weniger als 800 Euro im Monat auskommen. Der Handlungsdruck sei beim BAföG immens hoch und die Bundesregierung in der Pflicht, ihren sozialpolitischen Gestaltungsspielraum zum „Wohl der Studierenden“ zu nutzen, erklärte das DSW: „Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Was sind uns unsere klügsten Köpfe wert?“
Empört über den Beschluss äußerte sich auch der freie Zusammenschluss von Student*innenschaften fzs. Für Emmi Kraft aus dem fzs-Vorstand bedarf es einer groß angelegten Strukturreform, „denn die Studien der letzten Jahre zur Lage von Studierenden machen klar: Studierenden geht es schlecht. Es darf kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nötig sein, damit die Politik sich um die Belange der Studierenden kümmert.“ Krafts Vorstandskollegin Lisa Iden nannte die Entscheidung einen „Schlag ins Gesicht“: Studentische Armut als von Studierenden selbstverschuldete Situation darzustellen, verkennt das eigentliche Ziel des BAföGs: Chancengleichheit.“
Hintergrund
Für das Wintersemester 2014/2015 erhielt eine Masterstudentin 176 beziehungsweise 249 Euro BAföG. Weil selbst der damalige Grundsatz von 373 Euro deutlich unter dem Existenzminimum lag, klagte die Frau dagegen: Sie sah sich in ihren Grundrechten verletzt, der Staat ginge nicht seiner in der Verfassung gesicherten Sorgfaltspflicht nach, gleiche Ausbildungsmöglichkeiten für Alle zu sichern. Die Klage wanderte über das Bundesverwaltungsgericht schließlich zum Bundesverfassungsgericht, wo der Erste Senat am 23. September 2024 den beschriebenen Beschluss fasste und ihn am 30. Oktober bekannt gab.