Jede vierte Viertklässer:in in Deutschland erreicht nicht die Mindeststandards im Lesen. Das ist das Ergebnis der IGLU-Studie 2021, der fünften Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung. Am 16. Mai wurde sie vorgestellt und rief nicht nur Poliker:innen, sondern auch Vertreter:innen der pädagogischen Organisationen auf den Plan. Und das nicht ohne Grund: Im Vergleich zur ersten IGLU-Studie 2001 ist der Anteil der leseschwachen Schüler:innen um 8,5 Prozent auf 25,4 Prozent gestiegen. „Alarmierend hoch“, wie die Studie auf Seite 84 bilanziert.
Bei der Pressekonferenz der Kultusministerkonferenz am 23. Juni in Berlin zeigten sich die KMK-Präsidentin und Berliner Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch und der hessische Kultusminister Prof. Alexander Lorz (beide CDU) mit ihrem Amtskollegen, dem Hamburger Bildungssenator Ties Rabe einig, dass die einen Monat zuvor veröffentlichte Lesestudie IGLU 21 für die Länder eine besondere Herausforderung darstelle, betonten aber zugleich, dass Deutschland in den europaweit erhobenen Daten keineswegs dramatisch schlecht abschneide. Vielmehr, hob Rabe unter Hinweis auf ein Treffen der Europäischen Bildungsministerkonferenz hervor, habe IGLU einen allgemeinen Trend beim Nachlassen der Kernkompetenzen aufgezeigt. Das bestätigte auch der Generalsekretär der KMK, Udo Michallik unter Hinweis auf die Teilnahme der schleswig-holsteinischen Kultusministerin Karin Prien (CDU) an einer OECD-Konferenz in Washington, in der die Studienergebnisse zur Sprache gekommen waren. Nicht jedoch haben die Minister sich zu der Tatsache geäußert, dass bei IGLU 21 andere europäische Länder im Vergleich zu Deutschland deutlich besser abgeschnitten haben.
Tendenz: Lesekompetenz nimmt ab
Im Kern geht es bei der Lesekompetenz darum, dass sie nicht nur die Fähigkeit beschreibt, aus aneinandergereihten Buchstuben Wörter und Sätze zu bilden. Es bedeutet auch, „aus schriftlichen Texten Informationen zu entnehmen“ sowie „Intentionen von Autorinnen und Autoren kritisch zu reflektieren“ (siehe Kasten), um nur zwei Aspekte herauszugreifen, die Prof.in Dr. Nele McElvany, die Leiterin der IGLU-Studie 2021 in Deutschland, im Vorwort der Studie „Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre“ für Lesekompetenz benennt. Und dieser Trend ist negativ.
Die höchste Kompetenzstufe V erreichen in Deutschland unter zehn Prozent der Schüler:innen des 4. Schuljahres (8,4 %). Damit ist ihr Anteil im Vergleich zu 2016 um 2,8 Prozent gesunken und liegt noch unter dem Niveau von 2001. Nicht nur die Anzahl der sehr guten Leser:innen hat im Vergleich zu 2001 um 7 Prozent abgenommen, vielmehr hat sich die Anzahl der schwächsten Leser:innen (Kompetenzstufe I) verdoppelt.
EU-Vergleich: Deutschland unter dem Mittelwert
Mehrere europäische Länder können einen Anteil der besten Leser:innen von weit über 10 Prozent aufweisen, in Bulgarien zum Beispiel 15,4 % Prozent, und im internationalen Vergleich liegt Singapur mit 35,4 Prozent an der Spitze. Gravierend ist jedoch, dass ein Viertel der deutschen Schüler:innen am Ende des vierten Schuljahres über so schlechte Leseleistungen (Kompetenzenstufe I und II, Seite ) verfügt, dass sie kaum erfolgreich am weiteren Schulleben teilnehmen können. „Erhebliche Lernschwierigkeiten“ seien zu erwarten, konstatiert die Studie. Eine aufsteigende Kurve – um 6,5 Prozent im Vergleich zu 2016! In dem Jahr erreichten 18,9 Prozent der Viertklässner:innen die Kompetenzstufe III nicht. Selbst der EU-Durchschnittswert von leseschwachen Viertklässler:innen (23,3 Prozent) wird in Deutschland um 2,1 Prozent überschritten. In vielen europäischen Teilnehmerstaaten liegt der Anteil der Schüler:innen mit Kompetenzstufe I und II jedoch unter 20 Prozent, zum Beispiel in England bei 13,6 Prozent und in Polen bei 14,7 Prozent. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland im Mittelfeld. Aber der erreichte Mittelwert von 524 Punkten liegt weit unter dem Mittelwert von anderen EU-Ländern wie zum Beispiel Finnland und Polen (beide 549 Pkt.), Dänemark (539 Pkt.) und Italien (537 Pkt.).
Leistungsvorsprung der Mädchen: nicht naturgeben
Der oft genannte Leistungsvorsprung der Mädchen in der Lesekompetenz wird auch von IGLU 21 bestätigt. Einen Vorsprung von 15 Punkten hatten die Mädchen gegenüber den Jungen 2021. Somit gilt laut Studie auch heute noch – da sich der Unterschied in der Lesekompetenz dem Ausgangswert im Jahr 2001 von 13 Punkten Vorsprung der Mädchen wieder angeglichen hat –was 2001 galt: Im vierten Schuljahr sind die Mädchen den Jungen in der Lesekompetenz etwa ein Drittel Schuljahr voraus ((Hornberg et al., 2007). Gleichzeitig widerlegt die Studie, dass der Leistungsunterschied im Lesen zwischen Mädchen und Jungen naturgegeben ist: Unter fünf Punkten liegt dieser in Israel (4Punkte), Tschechien (3Punkte) und Spanien (2Punkte). Auch deutsche Schulen hatten – wenn auch weit entfernt von diesen Unterschieden – in den Vorjahren unter Beweis gestellt, dass der Vorsprung der Mädchen kein „Muss“ ist, immerhin betrug dieser in IGLU 2006 und IGLU 2011 nur 7 bzw. 8 Punkte. Die Lesemotivation hat jedoch bei Mädchen einen höheren Stellenwert als bei Jungen, so die Studie.
Lesekompetenz: Spiegel sozialer Disparitäten
Ebenso wie es seit 2001 nicht erreicht wurde, den Unterschied in der Lesekompetenz zwischen Mädchen und Jungen dauerhaft abzubauen, ist es in 20 Jahren auch nicht gelungen, den Unterschied in der Lesekompetenz von Kindern aus sozial privilegierten gegenüber weniger privilegierten Familien deutlich zu verringern. Mit 40 Punkten Unterschied ist dieser seit zwanzig Jahren praktisch unverändert, bestätigt das Studien-Ergebnis. Kinder, deren Erziehungsberechtigte der oberen Dienstklasse angehören, erreichten 2021 im Durchschnitt 567 Punkte, während Kinder, deren Erziehungsberechtigte der (Fach-)Arbeiter-Gruppe angehören, nur 527 Punkte erreichten. Wichtige Indikatoren für die Lesekompetenz sind Armut (nur in Deutschland erhoben) und die deutsche Sprache. Aufwachsen in armutsgefährdeten Familien erhöht das Risiko, eine schwache Leser:in zu werden. Insgesamt lag 2021 die Lesekompetenz bei Kindern aus armutsgefährdeten Elternhäusern 47 Punkte niedriger als bei Kindern aus nicht armutsgefährdeten Elternhäusern. In der sozioökonomischen Stellung „Routinedienstleistungen“ zum Beispiel beträgt die mittlere Lesekompetenz bei armutsgefährdeten Schüler:innen 496 Punkte, 49 Punkte weniger als bei nicht armutsgefährdeten dieser Stellung. Nicht armutsgefährdete Kinder von un- und angelernten Arbeiter:innen haben gegenüber armutsgefährdeten nur noch einen Vorsprung von 19 Punkten (517 zu 498 Punkten), bei Selbstständigen beträgt dieser Vorsprung nur 11 Punkte .
Einen Vorsprung in der Lesekompetenz von 41 Punkten haben die Schüler:innen, bei denen zu Hause immer oder fast immer deutsch gesprochen wird (537 Punkte). Schüler:innen, bei denen manchmal oder nie deutsch gesprochen wird, erreichen nur 496 Punkte. Dieser Unterschied ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im Durchschnitt der EU-Staaten, in den Niederlanden zum Beispiel beträgt er 20 Punkte und in Italien 19 Punkte. Das Fazit von IGLU 2021 lautet: „Im Trend zeigt sich, dass soziale Disparitäten in der Lesekompetenz in Deutschland seit 2001 nicht reduziert werden konnten – sich aber auch nicht verstärkt haben“ (Seite 173). Diese Einschätzung muss jedoch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass einerseits 2001 die mittlere Lesekompetenz der Viertklässlerinnen noch bei 539 Punkten (2021 bei 524 Punkten) lag, andererseits es einer Reihe von anderen teilnehmenden Staaten gelungen ist, die mittlere Lesekompetenz von 2001 bis 2021 zu verbessern. Verließ 2001 noch jede 6. Viertklässler:in in Deutschland die Grundschule ohne ausreichende Lesefähigkeit, war es 2021 schon jede(r) Vierte.
Fortsetzung mit "Lesekompetenz als Spiegel sozialer Disparitäten"
Ergänzende Informationen auch im zwd-POLITIKMAGAZIN 397