PISA-STUDIE 2022 : Bildungswende: Bund- Länder-Kooperation gegen Abwärtstrend?

8. Januar 2024 // Ulrike Günther

Die schwächsten Testwerte seit Beginn des Programms für Internationale Schüler:innen-Bewertungen (PISA), von sozialer Herkunft geprägte Bildungserfolge, geringe Lern-Motivation: Die Corona-Krise hat die Ergebnisse unbestreitbar mit beeinflusst, ohne sie allein bewirkt zu haben. Um den Abwärtstrend einzudämmen, schlagen Koalition und Gewerkschaften Maßnahmen vor, die von Investitionen in frühe Bildung (SPD) bis zu mehr Bund-Länder-Kooperation (Grüne, FDP) reichen.

Die Corona-Schulschließungen hatten ungünstige Effekte auf die Testwerte. - Bild: Pixabay/ Tumisu
Die Corona-Schulschließungen hatten ungünstige Effekte auf die Testwerte. - Bild: Pixabay/ Tumisu

zwd Berlin. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat in Reaktion auf die PISA-Erhebung sogar vorgeschlagen, das Grundgesetz (GG) in der Art zu ändern, dass es eine „Zusammenarbeit zwischen dem Bund und einem Teil der Länder“ erlaube. Mit einer solchen „Koalition der Willigen“ wäre es möglich, „schneller Projekte an(zu)stoßen“, sagte die Ministerin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Rascheres politisches Handeln sei erforderlich, „um Bildung gut zu organisieren“. Darüber hinaus plädierte Stark-Watzinger für gezieltes Fördern, „wo es am dringendsten gebraucht wird“, d.h. von sozioökonomisch oder durch Migrationshintergrund benachteiligten Kindern. Im Vordergrund stehen für sie dabei die Sprachkenntnisse, die es „möglichst früh“ zu unterstützen gelte.

Bei der im Frühjahr 2022 durchgeführten PISA-Studie lagen die Leistungen der 15-/ 16-jährigen bundesdeutschen Schüler:innen in Mathematik (Schwerpunktfach, 475 Punkte) und Lesen (480 Punkte) zwar etwa im Bereich des OECD-Durchschnitts (472/ 476 Punkte) und in den Naturwissenschaften (492 Punkte) signifikant darüber (OECD: 485 Punkte). 70 % (Mathematik) bis 77 % (Naturwissenschaften) der Jugendlichen erreichten bei den computerschriftlich absolvierten Tests mindestens die – ein unentbehrliches Maß an Grundkenntnissen gewährleistende - Kompetenzstufe II (Lesen: 75 %) und übertrafen damit den OECD-Durchschnitt jeweils um 1 %. Dennoch verschlechterten sich die Resultate in der Bundesrepublik in allen drei untersuchten Kompetenzbereichen im Vergleich zur Vorgängerstudie 2018 mehr als im Mittel der OECD-Länder: in Mathematik um 25 Punkte (OECD: - 15 Punkte), im Lesen um 18 Punkte (OECD: - 10 Punkte) und in den Naturwissenschaften um 11 Punkte (OECD: - 2 Punkte).

OECD: Bildungssituation und Chancenungleichheit besorgniserregend

Bei der Vorstellung der Studie am 05. Dezember in Berlin machte der Co-Autor Dr. Francesco Avvisati deutlich, dass die Corona-Pandemie als ein „offensichtlicher Faktor“ auf die Testergebnisse Einfluss ausgeübt haben könnte. Andererseits hätten ebenfalls von der Corona-Krise betroffene Staaten, wie Singapur oder Japan, bei den Schülertests Höchstleistungen erbracht, woraus sich ableiten ließe, dass die Pandemie für das schlechte Abschneiden der bundesdeutschen Schüler:innen nicht allein verantwortlich zu machen ist. Resümierend erklärte Avvisati, der „Zustand der Bildung“ und die „Chancenungleichheit im deutschen Schulsystem“ gäben „Anlass zur Sorge“. Die nationale Projektleiterin Prof.in Doris Lewalter von der Technischen Universität München (TUM) bestätigte die Annahme, die Schulschließungen während der Corona-Wellen hätten „negative Effekte“ gezeigt. Verglichen mit internationalen Standards sei die Bundesrepublik auf das Home-Schooling nicht gut vorbereitet gewesen, insbesondere hinsichtlich der digitalen Ausstattung. Als weitere Faktoren nannte Lewalter die heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft und die gesunkene Lernmotivation der Jugendlichen. An der PISA-Studie 2022 nahmen in der Bundesrepublik 6116 15- bis 16-jährige Jugendliche (von weltweit ca. 690.000) an 257 Schulen teil. Zusätzlich zu zwei Ein-Stunden-Tests in verschiedenen Kombinationen der Kompetenzbereiche bearbeiteten die Schüler:innen Fragebögen u.a. zu Motivation, Einstellungen und Lernerfahrungen. Schulleitungen, Eltern und Lehrkräfte beantworteten Fragen u.a. zu digitaler Ausstattung in den Schulen, Organisation von Distanz-Lernen, sozialem Hintergrund, Nutzung digitaler Medien oder anderen Merkmalen des Unterrichts.

SPD: Finanzieren nach sozialem Bedarf

Der grüne Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag Kai Gehring forderte angesichts der „desaströs(en)“ PISA-Testwerte eine „gesamtstaatliche und -gesellschaftliche Kraftanstrengung auf allen Ebenen“ mit dem Ziel, „Bildungschancen sicherzustellen“.Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Oliver Kaczmarek erkennt als Ursache der weiter verschlechterten PISA-Resultate vorrangig die „hohen sozialen Ungleichheiten“. Gegen die in zunehmendem Maße ungerechten Chancen müsse man verstärkt vorgehen. Kaczmarek setzt sich daher für konsequente Investitionen in frühe Bildung ein, wobei die Vergabe der Fördermittel schwerpunktmäßig am „sozialen Bedarf“ auszurichten sei. rünen-Politiker Gehring zählte eine ganze Liste von Aufgaben auf, die sich im Bildungsbereich nach dem neuerlichen PISA-Schock stellten, wie das Einrichten „hunderttausende(r) zusätzliche(r) Kitaplätze“, Modernisieren maroder Schulen oder flächendeckende Konzepte zum Fördern von benachteiligten Jugendlichen.

Der PISA-Bericht zeichne unübersehbar „ein alarmierendes Gesamtbild“, urteilte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesbildungsministerium (BMBF) Dr. Jens Brandenburg (FDP). Daher sei eine „Trendwende im Bildungssystem“ geboten. Man müsse „gemeinsam mit allen Mitteln“, indem man die unterschiedlichen staatlichen Ebenen einbeziehe, die Anstrengungen intensivieren. Brandenburg bekräftigte die Bereitschaft des BMBF, aktiv die Bundesländer darin zu unterstützen, z.B. mit einem MINT-Aktionsplan 2.0 oder „generelle(n) Maßnahmen zur Sprach- und Leseförderung“. Einen Fokus auf das Erlernen der Grundkompetenzen legt die Kultusministerkonferenz (KMK) unter Leitung von Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU). Auf der Pressekonferenz betonte sie, die Basisfähigkeiten könne man nur „durch guten und zielführenden Unterricht“ wieder stärken. Dafür sei es nötig, „vor Eintritt in die Schule an(zu)fangen, nämlich im frühkindlichen Bereich“. In Kitas, wo die frühe Bildung stattfindet, müsse man den Aufbau solider Basiskenntnisse „spielerisch“ vorbereiten, „um den Übergang (zur Grundschule) bestmöglich zu gestalten“ und es dadurch möglich zu machen, soziale Herkunft und Erfolg in der Bildung zu entkoppeln.

Koalition einig: Startchancen richtig

Für alle drei Koalitionspartner stellt das für 2024 geplante Startchancen-Programm, für das die Arbeitsgruppe von BMBF und Bundesländern am 22. Dezember die Bund-Länder-Vereinbarung bewilligt hat, ein entscheidendes Instrument dar, um für gerechtere Bildungschancen zu sorgen. SPD-Politiker Kaczmarek bewertet das Programm als „einen wichtigen Schritt in Richtung Chancengleichheit“ und „einen Paradigmenwechsel“ in der Kooperation von Bund und Ländern im Bildungssystem. Mit den „Startchancen“ beabsichtigt die Koalition, ab dem Schuljahr 2024/ 25 zehn Jahre hindurch 4.000 Schulen in sozial benachteiligtem Umfeld mit 20 Mrd. Euro zu unterstützen. Der liberale Bildungspolitiker Brandenburg äußerte dazu, das Programm sei mit Blick auf PISA „wichtiger denn je“. Es betreffe „die Zukunft und auch die Chancen jedes einzelnen Schülers und jeder Schülerin“. Die Sprecherin für Bildungspolitik der Grünen-Fraktion Nina Stahr lobte das Vorhaben als ein gelingendes „Bund-Länder-Projekt für mehr Bildungsgerechtigkeit“. Die FDP-Bildungsfachfrau Ria Schröder drängte in einem Kommentar für den zwd die Bundesländer, ihre "eigenen Anstrengungen (zu) verstärken", um dem Programm, das systematisch Chancengleichheit und "Schulen mit den größten Herausforderungen" fördere, zum Erfolg zu verhelfen. Übereinstimmend mit dem diesbezüglich fast einhelligen Tenor in den übrigen Stellungnahmen der Koalitionsfraktionen sprach sich die liberale Bildungspolitikerin Schröder für eine "wirksame Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen" aus. Damit die Kultusminister/innen effektiv "voneinander lernen, sie in einen "Wettbewerb um die besten Ideen", nicht nur um Lehrkräfte treten, schlug Schröder eine "Reform der dysfunktionalen Kultusministerkonferenz" vor. Die Grünen-Politikerin Stahr befürwortet wie ihr Fraktionskollege Gehring eine Bund, Länder wie Gemeinden einbeziehende „gemeinsame bildungspolitische Strategie“ mit „gesamtstaatlichen Bildungszielen“. Stahr erklärte, man müsse „über die Zukunft des Bildungsföderalismus“ debattieren, um herauszufinden, wie man „auf allen föderalen Ebenen“ künftig zielgerichtet kooperieren könne. Die linke Bildungspolitikerin Nicole Gohlke verlangte demgegenüber sehr dezidiert, das Kooperationsverbot aufzuheben. Bund und Länder wie auch Kommunen müssten „in die gemeinsame Verantwortung“, Bildung müsse „auf allen Ebenen Chefsache“ werden. Dem zwd sagte sie, eine "Gemeinschaftsaufgabe Bildung" müsse ins GG, um eine "gesetzliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit" zu gewährleisten.
















FDP: Benachteiligte brauchen individuelle Förderung

Im Hinblick auf den Erwerb der grundlegenden Fähigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen argumentierte die FDP-Sprecherin Schröder, gerade durch ihr Elternhaus benachteiligte Schüler:innen bräuchten „mehr individuelle Förderung“, während das GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze Wert auf eine durchgängige Unterstützung legt, die sich über die Grundschulzeit hinaus erstrecken sollte. Die KMK kritisierte Bensinger-Stolze dafür, diese habe seit der ersten PISA-Studie zu viel auf „Qualitätsentwicklung und Standardisierung“ und zu wenig auf „Handlungsfelder wie die Sprach- und Leseförderung, die wirksame Unterstützung benachteiligter Kinder und die Ganztagsschulentwicklung“ gesetzt. Ludger Wößmann vom Münchner ifo-Institut bekräftigte in diesem Zusammenhang anhand von Untersuchungen der Wirtschaftsforschung, dass die getesteten Grundkompetenzen eine Basis für spätere Einkommenschancen der Jugendlichen und die gesamte volkswirtschaftliche Entwicklung darstellen. Eine einseitige Fokussierung auf die Basisfähigkeiten weist der Präsident des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Gerhard Brand zugunsten eines den gesamten Menschen berücksichtigenden Ansatzes zurück. Wenn man Schüler:innen nicht ganzheitlich bilde, würden sie auch weniger gut lernen. „Kunst und Musik müssen ebenso einen festen Platz im Stundenplan haben wie Deutsch und Mathematik“, versicherte der VBE-Vorsitzende. Aufgrund des akuten Lehrkräfte-Mangels werde es immer schwieriger, "ein ganzheitliches Bildungsangebot" sicherzustellen, erklärte Brand gegenüber dem zwd. Überdies stellten sog. Randdisziplinen. von denen einzelne Studien zufolge den "gesamten Bildungs- und lernprozess" günstig beeinflussten, für viele Schüler:innen "eine positive Verankerung in der Schule" dar, ohne die sie weniger Interesse am Lernen entwickeln.












GEW: Später auf Schularten aufteilen

Die Leiterin im GEW-Schulbereich Bensinger-Stolze wendet sich in erster Linie gegen die im bundesdeutschen Bildungssystem angelegte „frühe Selektion“, die in sozialer Hinsicht ungerechte Finanzierung sowie den offenkundigen Personalmangel. Die Leistungen der Jugendlichen würden sich nicht „in der Breite verbessern“, wenn man sie weiterhin „so früh auf hierarchische Schulformen“ aufteile. Ebenso sei es ein Fehler zu erlauben, „dass sich soziale und personelle Probleme in bestimmten Schulen stark konzentrieren“. Wie Bensinger-Stolze unterstrich im Namen des Bundesvorstandes der Gesellschaft Gemeinnützige Gesamtschulen Dr. Cornelia Östreich die Bedeutung von "längerem gemeinsamen Lernen für alle Kinder". wie es, einschließlich individueller Unterstützung in Schulsystemen der im PISA-Ranking erfolgreichen Länder Kanada und Estland praktiziert werde. Östreich hält es für erforderlich, die nach dem PISA-schock von 2001 "nur aufgeschoben(e)" Schulstrukturdebatte in den Ländern wie bundesweit zu führen und zugunsten der "einen Schule für alle" zu entscheiden. Ebenso äußerte sich der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks Holger Hofmann, für eine optimale, ihren Fähigkeiten entsprechende Unterstützung der Kinder brauche man „ein nach oben durchlässiges Schulsystem“, das „ein längeres gemeinsames Lernen“ sowie „individuelle Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern“ ermögliche.

Ein weiterer Aspekt, den Hofmann mit Blick auf die von der UN-Kinderrechtskonvention garantierte gerechte Bildung für alle Kinder ins Spiel bringt, ist eine stärkere Mitbestimmung. Eine „gelingende Beteiligung“ der Schüler:innen und die „daraus resultierende Selbstwirksamkeitserfahrung“ würden dazu beitragen, Herausforderungen, besonders in der Situation sozioökonomischer Benachteiligung, besser zu reflektieren und zu bewältigen. Nach Auffassung von GEW-Vorstandsmitglied Bensinger-Stolze spiegelt sich in den unzureichenden Leistungen der Jugendlichen in Mathematik auch der Lehrkräftemangel wider. Erheblich mehr der befragten Schulleitungen als 2018 hätten sich über das Fehlen von Lehrpersonal bzw. die inadäquate Ausbildung von Lehrer:innen beschwert. „Massive Anstrengungen“ müssten unternommen werden, um beträchtlich mehr Fachkräfte für die Schulen zu gewinnen. Linken-Politikerin Gohlke tritt in diesem Sinne für eine „Ausbildungsoffensive" ein. Man brauche "ausreichend und gut ausgebildete Lehrkräfte und Erzieher:innen, die sich um die Bildung von Kindern und Jugendlichen kümmern". Außerdem erneuerte Gohlke ihren Vorschlag für „ein 100-Milliarden-Sondervermögen“ in der Bildung.





















Quelle: Wikimedia/ Matti Karstedt, Jeffrey Mo, Astrid Eckert, Photothek, Jens Brandenburg/ Stephanie Trenz, Bundesrat.de, FDP-Bundestagsfraktion, Nina Stahr/ Sonja Macholl, GEW, Nicole Gohlke/ Olaf Krostitz

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