CDU/CSU und FDP wären auf das negative Votum der AfD angewiesen
Die 20. Legislaturperiode des Bundestages soll mit der Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten am 27. Dezember 2024 zu Ende gehen. Voraussetzung ist aber, die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers erbringt das von ihm, der SPD, von Union und FDP erwünschte Ergebnis (Mehrheitsvotum pro kein Vertrauen). Sicher ist das bisher noch nicht: Denn CDU/CSU und FDP allein verfügen lediglich über 286 gegenüber 324 Stimmen von SPD und Grünen. Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) wäre mit Dobrindt, Lindner und Coist bei der Umsetzung seiner Neuwahlforderung angewiesen auf mindestens zusätzliche 39 Stimmen im Bundestag von der AfD: Diese Peinlichkeit brächte spätestens nach der Abstimmung Union und Liberale in Erklärungsnöte. Denn selbst die 38 Stimmen von BWS und Linken reichen dafür nicht aus. Eine Unterstützung der inzwischen neun fraktionslosen Abgeordneten darf kaum erwartet werden. Warum sollten sie ihre Parlamentssitze mittels ihres eigenen Votums räumen wollen?
Vor diesem Hintergrund kommt den Angehörigen der Regierungsfraktionen SPD und Grünen die Rolle zu, durch Stimmenthaltung oder Fernbleiben von der Abstimmung mitzuhelfen, dem Kanzler und der eigenen Regierung nicht das Vertrauen auszusprechen. Ein letztlich fragwürdiger Akt. Aber auch manche(r) Abgeordnete(r) aus dem Oppositionslager, dessen Aussicht auf Wiederwahl in den Bundestag fraglich oder so gut wie ausgeschlossen ist, wird sich die Frage stellen, ob er/sie auf seine Abgeordnetenbezüge in Höhe von ca. 60.000 Euro (März bis September) einfach verzichten sollte, nur um den nach Neuwahl strebenden Parteien einen Gefallen zu tun.
Was wäre, wenn Scholz im Amt bliebe?
Würde keine Mehrheit gegen Scholz zustande, müsste er im Amt bleiben und mit der jetzigen rot-grünen Minderheitsregierung weiterregieren. Seien Aufgabe wäre es, für deren Vorhaben entsprechende Mehrheiten im Bundestag zu gewinnen. Das würde die Kompromissfähigkeit aller Fraktionen des Bundestages, insbesondere der demokratischen Parteien auf der Rechten, auf die Probe stellen und zugleich dem Wahlvolk wichtige Einsichten eröffnen, wie es sich anfühlen könnte, wenn nach einer September-Bundestagswahl eine Minderheitsregierung von Abgeordneten aus dem Oppositionslager gestützt werden müsste. Denn dass es nach der Wahl, ob am 23. Februar oder 28. November, klare Regierungsoptionen gibt, kann nach den Meinungsumfragen nicht einfach vorausgesetzt werden.
Das Parlament ist unverändert handlungsfähig | Warum eigentlich jetzt und überstürzt Neuwahlen?
Vor diesem Hintergrund stellt sich ohnehin die Frage, warum eigentlich die Legislaturperiode des Bundestages vorfristig partei- und wahltaktischen Ansprüchen geopfert werden sollte. Nur weil sich ein CDU-Vorsitzender davon einen Vorteil verspricht, schneller Kanzler zu werden? Fraglos dürfte dieser aus gutem Grund meinen: Lieber jetzt als nie! Schließlich kann Friedrich Merz dem eigenen Parteifrieden und seinem bayerischen Mitstreiter nicht trauen. Querschüsse aus München werden ihm das Leben nicht leichter machen. Bis zu einer erst Ende September auslaufenden laufende Legislaturperiode kann in der Welt viel passieren. Schon jetzt zeigt die plötzlich und zweifellos wahltaktisch begründete Bereitschaft der FDP, das Ampel-Vorhaben der Steuerentlastungen und für ein höheres Kindergeld mitzutragen, wie schnell sich Koalitionsideen an der Wirklichkeit stoßen können.
Mit der Kettensäge gegen die Ampel
Merz weiß bei seinem Drängen auf Neuwahlen, dass er die volatilen Stimmungen in Deutschland nicht unterschätzen darf. Dass seine CDU mit CSU seit Monaten über 30 Prozent Zustimmung bei Meinungsumfragen liegt und sich mancher im Unionslager schon Gedanken über künftige Minister-Posten macht, greift zu früh. Denn Stimmungen sind bekanntlich nicht automatisch Stimmen auf dem Wahlzettel. Und die bisher von Boulevard-Zeitungen gestützte Stimmungsmache gegen die Ampel kann schnell in Vergessenheit geraten, wenn eine trotz Minderheit im Parlament nun geräuschlos arbeitende Bundesregierung den Bundestag veranlasst, inhaltlich Farbe zu bekennen – mit allen Folgen für das eigene Ansehen.
Mit der Kettensäge gegen die Ampel, das hat nämlich inzwischen Geschmäckle. Zu verräterisch war die Äußerung von Merz kurz nach dem Ampel-Aus, er könne sich Christian Lindner als Bundesfinanzminister in einer vom ihm als Bundeskanzler geführten Bundesregierung gut vorstellen. Damit hat er den Gerüchten Nahrung gegeben, das Ampel-Scheitern-Spiel könnte auf Absprachen zwischen ihm und Lindner beruhen. Lindner hat sich schon sehr bald nach dem Ampel-Start als „Bollwerk“ gegen die Linken in der Ampel geriert und danach gehandelt. Im Zusammenspiel mit der BILD-Zeitung gingen deren Redaktion regierungsinterne und vertrauliche Papiere, wie im Falle der Überlegungen von Minister Habeck zum Heizungsgesetz, regelmäßig auf den Tisch der Redaktion. In der Folgezeit wurden viele Ampel-Vorhaben blockiert.
Mit seinen jüngsten Äußerungen, Deutschland müsse mehr Milei und Musk wagen, hat er die angekratzte Glaubwürdigkeit der ehemaligen Drei-Punkte-Partei endgültig verspielt. Je deutlicher die Blockierer-Rolle der FDP im Kabinett war, desto nachhaltiger sank die Partei in Meinungsumfragen unter die fünf-Prozent-Grenze. Die einstmals stolze sozialliberale Partei, die 1969 mit dem SPD-Bundeskanzler Willy Brandt für „mehr Demokratie wagen“ eingetreten war, versucht sich nun auf den Pfaden der rechtsnationalistischen österreichischen FPÖ. Der Kanzler war zuletzt der einzige bekennende Sozialliberale im Kabinett. Dass er den Schnitt mit der FDP nicht früher gemacht hat, lag an der Illusion, mit den Liberalen könne ein Aufbruch gelingen wie zu Zeiten Willy Brandts.
Plötzlich agiert die Bundesregierung geräuschlos – seit dem Rauswurf der FDP
Manche Zweifler am Kanzler sind inzwischen verstummt, zumal es – je länger er noch regiert – nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass es ihm entgegen den Meinungsumfragen gelingt, im Zuge des Bundestagswahlkampfs das Ruder für eine Fortsetzung seiner Kanzlerschaft herumzureißen. Das ist nicht mehr abwegig. Denn die vielen Gesetzentwürfe, die die rot-grüne Minderheitsregierung nach dem Ausscheiden der FDP inzwischen auf den Weg gebracht hat, haben verdeutlicht, was in der einer SPD-geführten (rot-grünen) Bundesregierung alles möglich ist (Gewalthilfegesetz, Digitalpakt 2.0 usf. – Lindner, Buschmann, Stark-Watzinger haben ein langes Sündenregister).
Die Minderheitsregierung muss jetzt mit wirksamen Maßnahmen gegen die Arbeitsplatzabbau-Pläne der Wirtschaft angehen und dazu Eckpunkte für einen zukunftsfähigen Haushalt für 2025 und 2026 setzen. Wer sich im Parlament solchen Vorhaben verweigert, könnte schnell ins Abseits geraten und den Eindruck nähren, es gehe ihm mehr um die Partei als um das Land. Die Union, die sich zuletzt Änderungsvorschlägen zum Haushalt und zu anderen Vorhaben verweigert hat, könnte diesen Kurs nicht bis zur regulären Bundestagswahl am 28. September durchhalten, etwa an der Verabschiedung des Haushalts für 2025 nicht mitzuwirken. Deshalb will sie Neuwahlen jetzt. Das gilt ähnlich für die Debatte über die Schuldenbremse, die nicht nur den Bund, sondern auch die Länder zu nehmend vor Probleme stellt. Eine unionsgeführte Regierung würde ihre eigenen, von ihr in der Vergangenheit selbst verursachten Probleme erben.
Die Aufgabe des Parlaments bei uneindeutigen Mehrheitsverhältnissen
Es wäre die Aufgabe des Bundespräsidenten gewesen, das Verantwortungsbewusstsein der demokratischen Oppositionsfraktionen im Bundestag einzufordern, eine solide und mehrheitsfähige Parlamentszusammenarbeit zuzulassen. Die rot-grüne Minderheitsregierung wird absehbar mindestens noch drei Monate weiter amtieren, aber möglicherweise auch darüber hinaus noch, falls nach einer Neuwahl keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse im Parlament bestünden. Die Regierung bleibt in jedem Fall – und gerade außenpolitisch – weiterhin handlungsfähig, wäre aber zugleich auch gefordert, sich mit der Opposition über die erforderlichen Schritte für die Zukunftssicherung Deutschlands zu verständigen.
Das wäre verantwortliches politisches Handeln in einer Zeit von weltpolitischen Herausforderungen durch Krieg, Krisen und Unwägbarkeiten. Wenn – wie nach den Umfragen zurzeit denkbar – nach einer vorgezogenen Neuwahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse durch die Wahl zustande kämen, dann würde die Februar-Wahl noch mehr Frust der Wählerschaft und Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber den demokratischen Parteien erzeugen. Nicht auszudenken, wenn bei unklaren Mehrheitsverhältnissen die Wähler:innen im Jahre 2025 nochmals zur Wahlurne gerufen werden müssten (es wäre denn, eine Sperrminorität verhinderte auch das). Der Schaden für die Demokratie könnte nicht größer sein.
Es braucht keine Neuwahlen
Warum eigentlich jetzt Neuwahlen? Nur weil eine Partei, die für diese Koalitionskonstruktion (Ampel) gar nicht gewählt worden war, sie jetzt verlassen hat? Nur weil eine andere Partei sich aufgrund der aktuellen Zustimmung eines Drittels der Wahler:innen (nach Meinungsumfragen) davon Vorteile verspricht? Das Stellen der Vertrauensfrage und die Bitte an das Wahlvolk, ein neues Mandat zu erteilen, bleiben ehrenwert. Aber Regierung und Parlament wären auch ohne ein solches Manöver handlungsfähig, wenn für sie das Land und nicht die Partei im Mittelpunkt steht. Dazu braucht es keine Neuwahlen.