zwd Merseburg. Es ist grundsätzlich sinnvoll, die Kontrazeption ungewollter Schwangerschaften als Aspekt reproduktiver Gesundheit im Bereich der krankenkassenfinanzierten Leistungsansprüche für alle Menschen zu verorten. Dafür sprechen mehrere Gründe.
Ausgangspunkt ist: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie ist körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Die WHO-Definition ist eine wichtige Orientierung für ein modernes Gesundheitssystem. Dieses Wohlbefinden ist zweifelsohne gestört, wenn ungewollte Schwangerschaft infolge nicht adäquater Verhütung droht. Dies zeigen u.a. jüngere biografieforschungsbasierte Studien zu Sexualität und Verhütung mit allen Folgerungen für Partnerschaft, Familie, Frauen- und Männerleben in den 1950er bis 1980er Jahren. Die aktuelle Brisanz zeigen überdies eindrücklich Fallsammlungen von pro familia oder Berichte anderer Träger von Beratungsstellen. Es ist doppelbödig, einerseits den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft moralisch und juristisch zu sanktionieren und andererseits die Vermeidung ungewollter Schwangerschaften zum Privatproblem zu erklären.
Entscheidungen für oder gegen eine Schwangerschaft sind Entscheidungen von sozialer Tragweite für die betreffenden Personen. Nicht selten sind Bildungsverläufe, berufliche Entwicklung, familiale Lebensbedingungen nachhaltig betroffen. Das ist ein individuelles Problem und eine gesellschaftliche Herausforderung. Der Staat trägt Verantwortung für ein Maximum an Gesundheit.
Viele andere europäische Länder sind Deutschland in dieser Frage voraus
Die Förderung von Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit, einschließlich der Verhütung, ermöglicht Regierungen, Gesundheit strategischer zu fördern, so auch die WHO in ihren Leitlinien und ihrem Rahmenkonzept zur Verhütung aus dem Jahre 2014. In Europa ist Verhütung in Frankreich, Belgien und Großbritannien unentgeltlich, in 13 Ländern werden die Kosten für junge Frauen übernommen, in 15 Ländern je nach Einkommenssituation. Deutschland hat also erheblichen Nachholbedarf.
Sexualität und Familienplanung sind nicht einfach nur Themen der „individuellen Lebensführung“, gar des Lifestyles, wie gern argumentiert wird.
- Gesellschaft sollte nicht erschweren, darf es aber keinesfalls verunmöglichen, dass Frauen und Männer sicher – und das heißt auch individuell passfähig – verhüten können;
- Gesellschaft muss Bedingungen schaffen, dass Menschen ihre Familienplanung verantwortlich regeln können und dazu gehört, dass sie einen guten Zugang zu Informationen und Dienstleistungen haben, jenseits finanzieller Hemmschwellen.
Deutschland hat sich entsprechenden internationalen Erklärungen, Konventionen etc. wiederholt angeschlossen – jedenfalls prinzipiell. Hier besteht die Chance und Notwendigkeit der praktischen Umsetzung.
Apropos Lifestyle: Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass z.B. im TSVG (Terminservicegesetz) der Schutz von Risikogruppen durch die Kostenübernahme für den Prep-Test (Präexpositionsprophylaxe) in den Fokus genommen wird – bei aller Problematik im Detail. Auch hier geht es zwar um individuelle Lebensführung der betreffenden Menschen, aber auch um gesellschaftliche Verantwortung. Und auch in anderen krankenkassenfinanzierten Leistungsbereichen geht es um Vorsorge und Prävention. Deshalb setzt sich der Gesundheitsfonds ja nicht nur aus Beiträgen, sondern auch aus Steuermitteln zusammen.
Die Versorgungskette von ärztlicher Beratung und Verordnung kann und sollte an dieser Stelle geschlossen werden, auch durch die Unentgeltlichkeit der Kontrazeptiva selbst. Sie sind „unentbehrliche Arzneimittel“ nach WHO-Liste, d.h. Mittel, die die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung nach medizinischer Versorgung befriedigen. Noch dazu stärkt die Unentgeltlichkeit die Geschlechtergerechtigkeit, ist Verhütung doch nach wie vor primär ein Thema weiblicher reproduktiver Gesundheit, zum einen, weil die möglichen Folgen Körper und Leben die Frauen am unmittelbarsten betreffen, zum anderen, weil die meisten Kontrazeptiva durch Frauen anzuwenden und die Kosten vielfach durch sie zu tragen sind.
Insbesondere die Nichtdiskriminierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen ist auch im Bereich der reproduktiven Gesundheit dringend geboten. Bereits seit gut zehn Jahren ist dies immer wieder empirisch belegt.
Studien zeigen Handlungsbedarf auf
So zeigten 2007 und 2013 kleinere Studien an der Hochschule Merseburg erstmals die Handlungsbedarfe auf: Frauen, die staatliche Unterstützungsleistungen beziehen, wechseln aus Kostengründen häufiger zu situativ einsetzbaren und weniger sicheren Verhütungsmitteln oder verzichten sogar ganz auf Verhütung. Eine ungewollte Schwangerschaft bezeichnen sie als Katastrophe – der seelische Druck ist antizipierbar. Die BZgA-Studie Frauenleben 3 aus dem Jahr 2013 weist repräsentativ die entsprechenden Zusammenhänge bis zum erhöhten Risiko ungewollter Schwangerschaften nach.
Die politische Entscheidungsnotwendigkeit liegt klar auf der Hand. Die Regelungsmöglichkeit im Rahmen der Gesundheitsversorgung ist eine Frage des politischen Willens. Die bislang bestehende Fassung des § 24a im SGB V könnte adaptiert werden. Lösungen außerhalb des SGB V, § 24a halte ich prinzipiell im Sinne einer modernen Gesundheitsauffassung und des Respekts vor der Autonomie und Würde der betreffenden Menschen für nicht zeitgemäß. Kostenübernahmeanträge bei Jobcentern oder anderen Behörden in einer so intimen Angelegenheit wie der Verhütung und verknüpft mit dem Nachweis der Bedürftigkeit sind beschämend, viele Frauen werden vor diesem Schritt zögern oder zu einem nicht geringen Teil auch gar nicht von dieser Möglichkeit wissen. Aus der Perspektive der Betroffenen ist ein Anspruch im Rahmen einer regulären Gesundheitsversorgung völlig anderer Qualität als eine Antragstellung auf eine zu gewährende Leistung über wen auch immer. Selbst das German Board an Collage of Obstetrics and Gynecology hat sich jüngst ähnlich geäußert.