zwd Hamburg. Auf dem Spielplan steht am heutigen 19. Mai: „Alfons – jetzt noch deutscher“ - eine von 21 Veranstaltungen des Hamburger St. Pauli-Theaters unter der Überschrift „30 Jahre Hamburger Kabarett-Festival“, das gespickt ist mit Auftritten aus der ersten Reihe deutscher Kabarettist*innen wie Horst Schroth, Urban Priol, Erwin Pelzig und Mathias Richling. Das Sternchen beim Begriff Kabarettist*innen erklärt sich dadurch, dass im Rahmen des Festivals an drei Tagen auch Frauen auf die Bühne eines der ältesten deutschen Privattheater zu Ehren kommen: einmal der Hamburger „DamenLikörChor 2018 und zweimal Anna Bolk mit ihrem „Alte Mädchen Popkabarett“. Auch an dieser Veranstaltungsreihe – achtbar vom Regisseur und künstlerischen Leiter des St. Pauli-Theaters Ulrich Waller in Szene gesetzt – wird deutlich, dass hier für Kabarettistinnen gewiss noch „Luft nach oben“ ist, wenn nächstes Jahr das 31. Festival ausgerichtet wird.
Die Hamburger Veranstaltungsreihe finde in einer historisch besonderen Zeit statt, schreibt Theaterleiter Waller in einem Prospekt seines Hauses mit Blick auf die in Berliner regierende Groko. Das erste Festival, damals noch auf dem Hamburger Kampnagel, sei kurz vor der Bundestagswahl 1987 ausgerichtet worden, als die Union unter Bundeskanzler Helmut Kohl noch 44 Prozent der Stimmen holte und die SPD bei knapp 38 Prozent gelegen habe. Heute seien beide Parteien von solchem Zuspruch weit entfernt (und könnten bei einer aktuellen Bundestagswahl laut Sonntags-Frage gerade noch auf die Hälfte der Stimmen (32 bzw. 18 Prozent) hoffen - Anm.:HL). „Und auch sonst leben wir heute in einem anderen Land, in einer ganz anderen Welt“, resümiert Waller. Wohl wahr. Nicht erst der Einzug der mit (unfreiwilliger?) Unterstützung zunächst wenig sensibilisierter Medien hoffähig gemachten AfD in den Bundestag ist Ausdruck der Veränderung, auch der latent sich neben zunehmender Fremdenfeindlichkeit ausbreitende Antisemitismus muss in Deutschland die Glocken läuten lassen. Erinnerungsarbeit ist angesagt.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass das St. Pauli-Theater und natürlich auch der Hamburger Senat sich an diesem Tage, dem 19. Mai, nicht dazu aufraffen mochten, den Theatermann mit jüdischer Herkunft zu würdigen, dessen Name mit dem Varieté-Theater untrennbar verbunden ist: Ernst Drucker. Er, der 1855 geborene Begründer des mundartsprachlichen Theaters in Hamburg hatte das am 30. Mai 1841 gegründete „Urania-Theater“, das drei Jahre später nach einer ersten Pleite in „Actien-Theater“ umbenannt wurde und schließlich nach Versteigerung ab 1863 unter dem Namen „Varieté-Theater“ firmierte, 1884 gekauft und zur ersten Blütezeit geführt. Volksstücke in plattdeutscher Sprache, aber auch anspruchsvolle Stoffe von Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann gehörten zum Repertoire des Theaters, das ab 1895 den Namen des Eigentümers - „Ernst Drucker Theater“ - führte.
Am 19. Mai 1918 ist Ernst Drucker im Alter von 62 Jahren verstorben. Er hat also nicht mehr miterleben müssen, dass sein Theater 1941 auf Verfügung der Nationalsozialisten in St. Pauli-Theater umbenannt werden musste. Der Grund war, dass die NS-Schergen anlässlich der Veröffentlichung einer Broschüre zum 100. Bestehen des Ernst Drucker Theaters herausgefunden hatten, dass sein Begründer aus einer Hamburger jüdischen Kaufmanns-Familie stammte. Der seit dem 22. März 1881 mit der Königsbergerin Anna Dombrowska (lutherische Religion) verheirate Nathan Drucker konvertierte zwar am 4. Oktober 1882 zur lutherischen Religion und nannte sich seitdem Ernst Drucker. Das hielt die Hamburger NS-geführte Stadtverwaltung jedoch nicht davon ab, ihn als nicht-arisch zu verunglimpfen. Auf seiner amtlich verwahrten Sterbeurkunde ist diagonal mit fettem Bleistift vermerkt: „Jude“.
In den Jahren nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gab es langanhaltende Bemühungen um eine gewisse Wiedergutmachung, d.h. dem St. Pauli-Theater seinen alten Namen zurückzugeben. Vielleicht war eine Umbenennung auch den jetzigen Inhabern des unter dem Vornamen „St. Pauli“ eingeführten Theaters unter Marketing-Gesichtspunkten ein wenig fragwürdig. So dauerte es schließlich bis zum Jahre 2011, bis die damalige, ein Jahr später verstorbene Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler dank verschiedener Initiativen aus der Hamburger Bürgerschaft und Gesellschaft an dem Gebäude des Theaters den Schriftzug „EHEMALS ERNST DRUCKER THEATER“ enthüllen konnte.
„Jetzt gehen die Hamburger wieder ins Drucker“, gab damals die SPD-Politikerin zu Protokoll. Das war's dann aber wohl auch.
Anlässlich der 175-Jahr-Feier hat die heutige Intendanz – seit 1970 ist das Theater im Besitz der Familie Collin – zwar in einer Festbroschüre auch einen Kapitel-Abschnitt den früheren Inhaber*innen des Theaters (vor allem auch Anna Simon seit 1924) gewidmet, aber sich dann doch mehr auf die Heute- und Jetzt-Zeit konzentriert. Dank finanzieller Förderung durch die Hamburger Kulturbehörde und vieler Spenden konnte das Theater im Jahr 2016 grundständig modernisiert werden. Aus dem Hamburger Haushalt fließen jetzt deutlich mehr Zuschüsse, die das Überleben des anspruchsvollen Theaterbetriebes sichern. Spender*innen wie die Bodo-Röhr-Stiftung ermöglichten im April dieses Jahres das „stürmische Theaterspektakel Störtebecker“. Auch der Ulrich Wildgruber-Preis könnte durch das St. Pauli-Theater alljährlich nicht ohne das Sponsoring des Industriemanagers Michael Behrendt und seiner Frau (er ist Aufsichtsratsvorsitzender des renommiertesten Hamburger Schiffahrts-, Transport- und Logistikunternehmens Hapag- Lloyd) nicht verliehen werden. Es ist schon ein besonderes Theater.
Schade, dass bisherige Anregungen des Verfassers dieses Kommentars, in einer speziellen Veranstaltung an den Theatermann Drucker zu erinnern, nicht aufgegriffen wurden, ebenso wenig der Gedanke, ein Forschungsprojekt über die Drucker-Familie aufzulegen bzw. zu finanzieren. Dabei ginge es nicht nur um den Theatergründer Ernst Drucker, sondern auch um andere Künstlerinnen-Persönlichkeiten aus der Drucker-Familie wie die Schwester von Ernst Drucker, Zerline, eine bekannte Opernsängerin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In den Fokus würden auch die vor den Nationalsozialisten 1933 emigrierten Drucker-Töchter Wally (bekannt geworden als Stummfilmstar der 20er Jahre unter dem Namen Valerie Boothby, später Malerin und Jugendbuchautorin) und deren Schwestern Gerda (Tänzerin) und Helga (Malerin) rücken. In der Zusammenschau würde daraus eine spannende Familiengeschichte, freilich schon verbunden mit viel Recherchearbeit und literarisch-publizistischer Aufbereitung. Was noch nicht ist, kann ja noch werden.
Denn Erinnerung ist bekanntlich nicht nur etwas für Hausinschriften und Theatergeschichtsbücher, sondern verlangt nach aktiver Erinnerungsarbeit, findet nicht nur Ernst Druckers Urenkel.