Deutscher Bundestag, Wahlrechtskommission Drs. 20(31)18 vom 1.6.20222
Prof.in Silke Ruth Laskowski | Elke Ferner (PStS a.D.)
Für ein regionalisiertes und personalisiertes Verhältniswahlrecht
1. Anforderungen an ein neues Wahlrecht
Ein neues Wahlrecht muss:
- Die Proportionalität zwischen den Parteien wahren
- Die gesetzliche Größe des Deutschen Bundestages einhalten
- Parität sicherstellen
- Eine ausgewogene regionale Vertretung absichern
- Elemente der Persönlichkeitswahl enthalten
2. Warum ein neues Wahlrecht?
Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Wahlrechts einen breiten Spielraum. Das geltende Wahlrecht ist dem Grunde nach ein Verhältniswahlrecht. Die Zweitstimme entscheidet über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages.
Die Ursache für die anwachsende Größe des Deutschen Bundestages sind die Überhangmandate. Entstehen keine Überhangmandate, wird die gesetzliche Zahl von Abgeordneten auch nicht überschritten.
Außer drei Überhangmandaten werden aktuell alle Überhangmandate ausgeglichen, damit die Proportionalität gewahrt bleibt. Immer mehr Direktmandate, die zu Überhangmandaten führen können, werden mit einem relativ niedrigen Stimmenanteil gewonnen. Mittlerweile ist es keine Seltenheit mehr, dass ein Direktmandat schon mit 25 Prozent der Erststimmen gewonnen wird. Im Umkehrschluss heißt das, dass solche direkt gewählte Abgeordnete von deutlich mehr als der Hälfte der Wählenden nicht gewählt wurden. Auch durch solche Direktmandate steigt die Anzahl der Überhangmandate und damit die Anzahl der Ausgleichsmandate. Verschärft wird die Situation insbesondere durch die Überhangmandate der CSU, die sogar Ausgleichmandate für die CDU zur Folge haben.
Außerdem sind Frauen in den Parlamenten hoffnungslos unterrepräsentiert. Bis heute waren in keinem einzigen Landtag und auch nicht im Deutschen Bundestag Frauen entsprechend ihrem (gut) hälftigen Bevölkerungsanteil bzw. ihrem (gut) hälftigen Anteil an den Wahlberechtigten vertreten. Im Deutschen Bundestag lag der Frauenanteil zu Beginn einer Wahlperiode mit 36,5 Prozent 2013 am höchsten, nach der Wahl 2021 liegt er bei 34,8 Prozent – in beiden Fällen weit entfernt von Parität. Nur 28,6 Prozent der Direktkandidierenden 2021 waren Frauen und es wurden sogar nur 26,1 Prozent direkt gewählt. Auch auf den Listenplätzen waren Frauen nur zu 35,6 Prozent vertreten, ausgenommen die seit Jahren etwa hälftig und abwechselnd mit Frauen und Männern besetzten Landeslisten von SPD, Grünen und Linken. Werden Frauen von den Parteien nicht nominiert, können sie anschließend vom Volk auch nicht gewählt werden.
Mehr als 100 Jahre nach Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts müssen die deutlichen strukturellen Benachteiligungen von Frauen, die es auch bei Kandidaturen zum Deutschen Bundestag oder den Landtagen gibt, beseitigt und die gleiche Teilhabe von Frauen in den Parlamenten vom Staat verwirklicht werden.
- Wahrung der Proportionalität und Größe des Parlaments
Bei einem reinen Verhältniswahlrecht wird die Proportionalität immer gewahrt und die gesetzliche Zahl von Abgeordneten wird nie überschritten. Alle Mandate werden über die Listen zugeteilt, die Direktwahlkreise entfallen.
Dieses Wahlsystem wird in vielen Ländern angewandt, z.B. in den skandinavischen Ländern oder auch bei den Landtagswahlen im Saarland.
- Regionale Vertretung und Persönlichkeitswahl
Um eine angemessene regionale Vertretung sicherzustellen, werden dort Mehrpersonenwahlkreise gebildet, in denen mehrere Personen über die jeweilige Wahlkreisliste ins Parlament entsandt werden. In einigen skandinavischen Ländern gibt es sogenannte Präferenzstimmen, die die Wählenden bestimmten Personen auf der Parteiliste zuteilen können. Damit besteht für die Wählenden die Möglichkeit, die von den Parteien vorgeschlagene Reihenfolge zu verändern.
- Absicherung Parität
Zudem kann mit freiwilligen parteiinternen Regelungen oder Regelungen im Wahlrecht die paritätische Vertretung von Frauen und Männern im Parlament abgesichert werden.
3. Wie könnte ein regionalisiertes und personalisiertes Verhältniswahlrecht aussehen?
Wählende haben eine Stimme, mit der die Stärke der Partei im Deutschen Bundestag bestimmt wird, ggfs. ergänzt um Präferenzstimmen, mit der die Reihenfolge auf den Listen verändert werden kann.
Denkbar sind zwei Varianten:
- Alle 598 Mandate werden über regionale Wahlkreislisten zugeteilt
oder
- 538 Mandate werden über regionale Wahlkreislisten und 60 Mandate werden über Bundeslisten der Parteien zugeteilt.
- Pro Bundesland gibt es mindestens einen Wahlkreis, in dem mehrere Personen als Abgeordnete gewählt werden.Abhängig von der Größe des Bundeslandes könnten ein bzw. mehrere Wahlkreise gebildet werden, z.B.
1 Wahlkreis in den kleineren Bundesländern, die im Bundesrat 3 Stimmen haben (HB, HH, MV, SL)
2-3 Wahlkreise in den mittleren Bundesländern, die im Bundesrat 4-5 Stimmen haben (SH, BE, BB, SN, TH, ST, HE, RP,)
4-6 Wahlkreise in den großen Bundesländern, die im Bundesrat 6 Stimmen haben (BW, BY, NW, NS)
- Es obliegt dann den Parteien, die Listen so zusammenzustellen, dass eine regionale Verteilung sichergestellt wird. Zunächst wird ermittelt, wie viele Sitze den Parteien abhängig von ihrem Wahlergebnis bundesweit zustehen.
Bei Variante 1 werden danach die 598 Sitze, abhängig vom Wahlergebnis, auf die einzelnen Wahlkreislisten der Parteien verteilt. Gewählt sind dann die Kandidierenden in der Reihenfolge der Liste, ggfs. durch Präferenzstimmen veränderten Liste.
Bei Variante 2 werden nur 538 Sitze über die Wahlkreislisten wie bei Variante 1 verteilt. Dann wird ermittelt, wie viele Sitze jeder Partei noch bis zur Gesamtsitzzahl fehlen. Diese Sitze (insgesamt 60) werden über die Bundeslisten der Parteien verteilt, wobei Kandidierende, die bereits über die Wahlkreislisten zum Zuge kamen, außen vor bleiben.
Variante 2 hätte den Vorteil, dass erstmals alle Parteien über die Bundesliste ihr Spitzenpersonal auf allen Wahlzetteln zeigen könnten.
Parität kann über alternierende Listen, die durch Präferenzstimmen von den Wählenden verändert werden können, erreicht werden. Diverse Personen können auf einem Männer- oder Frauenplatz kandidieren, so dass an dieser Stelle die Reihenfolge unterbrochen, danach aber fortgesetzt wird. Die Voraussetzung der Nominierung ist immer, dass der/die Kandidierende die Stimmenmehrheit der Delegierten der Nominierungsversammlung erhält. Die einzige Einschränkung könnte darin gesehen werden, dass Männer und Frauen nur auf den für sie jeweils vorgesehenen Plätzen kandidieren dürfen. Insoweit werden Frauen und Männer jedoch strikt gleichbehandelt.
SPD, Grüne und Linke haben bereits parteiinterne Satzungsregelungen, die solche Regelungen vorsehen. Fehlen derartige Regelungen bei anderen Parteien, so haben Frauen dort deutlich geringere Chancen überhaupt – zudem auf einem aussichtsreichen Platz – kandidieren zu können.
Dieses Modell erfüllt alle oben genannten Kriterien. Die Proportionalität wird gewahrt, die gesetzliche Größe wird nie überschritten, Parität ist möglich, die regionale Vertretung kann gewährleistet werden.