(KOLUMNE IM zwd-POLITIKMAGAZIN 393)
Es liegt nach meiner Erinnerung wohl über dreißig Jahre zurück, dass der Landtag in Schleswig-Holstein eine höchst kontroverse bis giftige Grundsatzaussprache hatte über die Zukunftsperspektiven des Schulwesens und hier speziell über das damals noch festgemauerte dreigliedrige Schulsystem und den Aufbau eines umfassenden Angebots von Ganztagsschulen. Bis dahin hatte es dieses Bundesland auf sage und schreibe zwei integrierte und zwei additive Gesamtschulen und auch nicht auf mehr als 5 Ganztagsschulen gebracht. Das war in anderen Bundesländern nicht sehr viel anders. Verbindlichkeit in der Betreuung am Nachmittag gab es im Hort und nicht in der Schule. Deutschland – es war vor 30 Jahren noch absolutes Entwicklungsland in Sachen Ganztagsschule.
Und jetzt? Nach der derzeit geltenden Definition der KMK waren im Schuljahr 2020/ 2021 71 Prozent der allgemeinbildenden Schulen ganztägig organisiert, von über 85 bzw. 80 Prozent Ganztagsschulen an den Schulen mit drei Bildungsgängen bzw. 2 Bildungsgängen gegenüber den Grundschulen mit 70 Prozent und den Realschulen (57 %). Die Schularten unterscheiden sich dabei signifikant in den Anteilen, die auf die gebundene und die offene Form an Ganztagsschulen entfällt. Mit 61 Prozent ist der Anteil an offenen Ganztagsschulen im Grundschulalter mit Abstand der Höchste. Hier ist jetzt ab dem Schuljahr 2026/2027 ein Rechtsanspruch im Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes verankert, nach dem das ganztägige Angebot stufenweise bis 2029/2030 auf alle Grundschulkinder auszuweiten ist. Soweit, so klar, sollte mensch meinen.
Tatsächlich gibt es schon in der Begründung für diese größte Veränderung an den Grundschulen seit ihrer Institutionalisierung vor 102 Jahren in der Weimarer Staatsverfassung relevante Unterschiede. Legen die einen den Schwerpunkt aus berufs- und gleichstellungspolitischen Gründen auf die Kontinuität von Verlässlichkeit und Betreuung nach der Primärphase im Kindergarten, erwarten sich andere die Umsetzung von bildungspolitischen Zielen wie eine individuelle Förderung der Kinder, mehr milieu- und schichtenübergreifende Gemeinsamkeit und nachhaltige Verbesserungen bei der Chancengleichheit. Halten die einen noch an der Freiwilligkeit, Vielfalt und Subsidiarität fest, setzen die anderen voll auf den Bildungsauftrag vom Ganztag und die Perspektive von Gebundenheit auch über die Grundschule hinaus.
Fast muss mensch den Eindruck gewinnen, mit der Auflösung des gordischen Knotens in den Ambitionen des Bundes und der Länder über die Verankerung eines Rechtsanspruchs im bundeszuständigen Kinder - und Jugendhilferecht seien diese Fragen bereits alle beantwortet. Und man könnte sich jetzt allein auf die technokratische Umsetzung konzentrieren. Dieses wäre aber zu kurz gesprungen. Ohne klare Vorstellungen über den pädagogischen Anspruch an gute Ganztagsschule wird sich kein sachgerechter Personalaufbau verwirklichen lassen – weder in Qualifikation noch bei der Diversität der Fachkräfte. Ohne Einigkeit zwischen allen Ländern und dem Bund über die Aus- und Weiterbildung des Personals, seine Bezahlung und rechtliche Zuordnung, werden die Hochschulen und Fachschulen nicht die notwendigen Kapazitäten für die Aus- und Weiterbildung schaffen können (geschweige wird es einen länderübergreifenden Arbeitsmarkt in Deutschland geben). Ohne diesen Kapazitätsaufbau werden aber schwerlich die kalkulierten 65.000 zusätzlich benötigten Fachkräfte bis 2029/2030 plus x für Ersatzbedarfe zur Verfügung stehen. Nur so lässt sich auch der erwartete Zusatzbedarf an 700 000 zusätzlichen Ganztagsplätzen bis 2029/2030 realisieren. Für den Aufbau von entsprechenden Kapazitäten im KiTa-Bereich hat es schon bedeutend länger als 8 Jahre gebraucht. Die Größe der neuen Aufgabe ist ganz gewiss nicht kleiner!
Die Grundsatzdiskussion, wohin wir die Bildungseinrichtung Schule als Ganztagseinrichtung entwickeln wollen, darf dabei nicht einschlafen, sondern ist zu einer konkreten Perspektive hinzuführen. Die operative Umsetzung des Rechtsanspruchs muss durch einen Masterplan auf KMK-Ebene zusammen mit dem Bund wie mit den ganz entscheidend betroffenen Kommunen vorbereitet werden, damit am Ende aus der Not heraus kein „Billigangebot“ entsteht und das von Bundesland zu Bundesland auch noch ganz verschieden. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission bei der KMK sollte hierzu mit Hochdruck eine Vorlage erstellen. Praktiker:innen gehören hierfür rechtzeitig mit an einen Tisch. Und die Bildungs- und Jugendminister:innen der Länder und des Bundes müssen dann zügig zu einer Einigung mit der notwendigen Tiefe und Verbindlichkeit kommen. Mehr als ein Jahr dürften sich die Beteiligten hierfür nicht Zeit lassen. 2025/ 2026 ist nicht mehr lang hin.
Ob hiermit Hektik oder gar Panik verbreitet werden. Ich meine nein: Große Reformen bedürfen aber nun einmal auch einer großen Vorbereitung. Und zwar mit Priorität und Energie und Herzblut.
Dr. Ernst Dieter Rossmann war in der 19. Legislaturperiode Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung. Der SPD-Politiker aus Elmshorn zählt seit 1987 zu den profilierten Bildungs- und Weiterbildungsexperten seiner Partei. Im Mai 2019 wurde er nach zwölf Jahren als Vorsitzender zum Ehrenvorsitzenden des Deutschen Volkshochschul-Verbandes gewählt. Er schreibt regelmäßig für das zwd-POLITIKMAGAZIN.