Kurs halten – Kulturelle Demokratie sichern - Zehn Erwartungen an die neue Bundesregierung
Erklärung des Präsidenten der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. zu den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene
Bonn / Erfurt, 12.03.2025
„Die demokratische politische Kultur ist bedroht. Was noch vor wenigen Jahren undenkbar schien, ist uns und aller Welt in den letzten Wochen in beispielloser Weise vor Augen geführt worden: die Aufkündigung moralischer Prinzipien, der Bruch mit zivilisierten Umgangsformen und einer an demokratischen Werten orientierten Haltung im politischen Raum. Die disruptiven Attacken des neuen US-Präsidenten Donald Trump und seiner autokratischen und populistischen Helfershelfer sind ein Fanal, dessen Folgen auch für die politische Kultur in Deutschland und Europa Schlimmes befürchten lassen. Schon jetzt wird von einer zweiten »Zeitenwende« gesprochen, die die Grundfesten unserer Demokratie erschüttert. Dieses Mal kommt sie aus dem »Westen«. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Kulturszene aufgerufen, zusammenzustehen und der fortschreitenden Regression entgegenzutreten. Im Bewusstsein dieser Notwendigkeit appellieren wir aus gegebenem Anlass an die auf Bundesebene verantwortlichen Kulturpolitiker*innen, sich zu ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung zu bekennen und Kunst und Kultur als Demokratie sichernde Faktoren zu stärken. Im Einzelnen fordern und erwarten wir:
1. Eintreten für Vernunft und Menschlichkeit
Demokratische Kulturpolitik ist den Werten der europäischen Aufklärung verpflichtet. Humanität, Freiheit und Rationalität sind ihre essentiellen Prinzipien. In einer Zeit, in der Vernunftverachtung in rechten, aber auch in linken Kontexten zum Vorschein kommt, sind diese Werte umso mehr in Erinnerung zu rufen. Auch wenn Bundeskulturpolitik dazu in einem operativen Sinne kaum etwas beitragen kann, so sind doch die im Bundestag vertretenen Parteien aufgefordert, ihre kulturpolitischen Programmatiken daraufhin zu überprüfen. Ohne Vernunft und Menschlichkeit hat auch die Freiheit der Kunst keine Chance.
2. Integration als kulturelle Herausforderung ernstnehmen
Es gehört zu den Grundüberzeugungen demokratischer Kulturpolitik, dass Kultur ein Medium innergesellschaftlicher Verständigungsprozesse sein kann. Angesichts der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft und in Kenntnis der antisemitischen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen und Gewalttaten ist Kulturpolitik umso mehr aufgerufen, das Potenzial der Kultur als Toleranz- und Integrationsfaktor ernst zu nehmen. Desintegration und Dekonstruktion sind keine Lösungen. Die Gewährleistung kultureller Diversität ist keine Frage ideologischer Bekenntnisse und kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in unserem Land. Der Bund sollte integrative Prozesse durch geeignete Programme fördern.
3. Nichtstaatliche demokratische Organisationen stärken
Öffentliche Kulturpolitik ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. Vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen wirken daran erheblich mit. Eingedenk der gegenwärtigen disruptiven Politik gegenüber NGOs in den Vereinigten Staaten sind diese Strukturen in Deutschland zu schützen und auszubauen. Im Handlungsfeld der Bundeskulturpolitik gilt dieses vor allem für die Kulturverbände und für die Bundeskulturfonds. Ihr Wirken sollte gestärkt werden, anstatt sie durch eine »Kleine Anfrage« zur politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen zu verunsichern. Wer kann und darf sich angesichts der aktuellen Gefährdungen der Demokratie neutral verhalten?
4. Kulturelle Infrastruktur planvoll entwickeln und sanieren
Deutschland verfügt über eine reiche und vielgestaltige kulturelle Infrastruktur. Sie bietet Räume, Themen und Gelegenheiten für die innergesellschaftliche Verständigung, die für demokratische Gesellschaften unentbehrlich ist. Die weitere Entwicklung der Kulturlandschaft bedarf einer konzeptorientierten und planvollen Gestaltung. Ein Ansatzpunkt ist der viel beklagte Sanierungsstau bei den Kultureinrichtungen der Gemeinden. In dem geplanten Infrastrukturtopf der Bundesregierung sollten dafür Mittel in angemessener Größenordnung zur Verfügung stehen, wenn der Bedarf nachgewiesen wird und nicht nur Einrichtungen der Hochkultur davon profitieren.
5. Kultureinrichtungen klimafreundlich ausgestalten
Obwohl die Klimakrise aus dem Fokus der Politik geraten scheint, bleibt sie virulent und bedrohlich. Sie hat nichts von ihrer Dramatik verloren, auch wenn viele Menschen sie verleugnen oder verdrängen. Der CO2-Ausstoß muss verringert werden, und dies muss jetzt geschehen. Nach wie vor gilt es daher, die kulturelle Infrastruktur- und Förderpolitik unter den Vorbehalt der Klimaverträglichkeit zu stellen. Auf Bundesebene sollte dafür Sorge getragen werden, dass die demnächst für Kultur zuständige Bundesbehörde das von der BKM im Jahr 2021 ausgegebene Ziel, bereits bis 2030 klimaneutral zu arbeiten, konsequent weiterverfolgt. Weitere Vorschläge sind den »Anregungen und Handlungsempfehlungen für die kulturpolitische Praxis« zu entnehmen, die das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft im Rahmen des von der BKM geförderten Projektes »Nachhaltige und klimagerechte Kulturpolitik« im Jahr 2023 als »Policy-Paper« vorgelegt hat.
6. Künstler*innen sozial gerecht fördern
Künstlerinnen und Künstler sind eines der Fundamente des kulturellen Lebens. Ihr freies Gestalten ist Ausdruck der liberalen kulturellen Demokratie. Frei sind sie jedoch nicht nur vom Staat, sondern auch durch den Staat, indem dieser kulturfreundliche Rahmenbedingungen schafft und seine Förderungen sozial auskömmlich und fair gestaltet. Konkret geht es darum, die finanzielle Situation der Kreativen durch die Ausgestaltung der Künstlersozialabgabe abzusichern und die Verdienstmöglichkeiten der Solo-Selbständigen durch Mindesthonorare aufzubessern. Der Bund ist dazu vor allem bei seinen eigenen Förderungen angehalten.
7. Kulturelle Disparitäten abbauen
Das Kulturangebot ist in Klein- und Mittelstädten sowie in ländlichen Räumen nicht immer optimal entwickelt, sondern weist oft Defizite auf, die die Lebensqualität beeinträchtigen und das Gefühl des Abgehängtseins verstärken. Diese Situation ist Gift für den sozialen Frieden, wenn sie populistisch politisiert wird. Manche Bundesländer reagieren darauf mit gezielten Fördermaßnahmen, indem sie etwa »Dritte Orte« in ihr Förderportfolio aufnehmen. Auch die Bundeskulturpolitik sollte darauf reagieren. Das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft hat dafür im Rahmen der vom BKM geförderten Studie »Kulturpolitik für ländliche Räume« Vorschläge entwickelt.
8. Europäische und internationale kulturelle Beziehungen ausbauen
Angesichts der gegenwärtigen Disruptionen in den internationalen Beziehungen und der geopolitischen Auseinandersetzungen muss Europa als Werte- und Solidargemeinschaft zusammenrücken und seine Rolle als friedenssichernde und auf wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich setzende Kraft stärker zur Geltung bringen. Der Austausch von Wissen und Kultur kann diese Zielsetzung unterstützen und den europäischen und internationalen Dialog befördern. Kulturpolitik muss in Deutschland wieder zu einem integralen Bestandteil in den auswärtigen Beziehungen werden. Die internationalen Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut, das Institut für Auslandsbeziehungen und der DAAD müssen gestärkt werden, um ihrem Auftrag in Europa und der Welt gerecht zu werden.
9. Kulturpolitikforschung unterstützen
Kulturpolitik braucht Daten und Fakten, um problemangemessen handeln zu können. Gerade in Zeiten der fiskalischen Knappheit ist dies notwendig. So sind etwa Entscheidungen zur zukünftigen Ausgestaltung der kulturellen Infrastruktur auf Forschungen zur Inanspruchnahme der Kultureinrichtungen und der Entwicklung der kulturellen Interessen angewiesen. Die Bundeskulturpolitik hat dies längst erkannt, aber die Erkenntnis nicht in aktive Politik umgesetzt. Deshalb erwarten wir ein proaktives Engagement in dieser Frage.
10. Kulturpolitik qualifizieren
Kulturpolitik ist ein professionelles Politikfeld, das auf qualifiziertes Personal angewiesen ist. Dennoch wird seit Jahrzehnten über fehlende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten geklagt. Auch hier sollte der Bund seine subsidiäre Verantwortung übernehmen und vorhandene Strukturen der Information, Qualifizierung und Beratung fördern.“