JAHRESBERICHT MENSCHENRECHTE 2023 : DIMR fordert umfassende Strategie gegen Gewalt an Frauen

8. August 2024 // Ulrike Günther

In Partnerschaftsgewalt sieht das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) ein großes Problem und „mächtiges Tabuthema“. Um häusliche Gewalt wirksam zu bekämpfen, fordert das DIMR im neuen Jahresbericht eine umfassende, koordinierte Strategie. Neben Gesetzesreformen zum Umgangs- und Sorgerecht braucht es Sensibilisierung von Beteiligten an Familienverfahren und ein für alle zugängliches Hilfe- und Schutzsystem.

70 Prozent der Betroffenen häuslicher Gewalt sind Frauen. - Bild: flickr/ Marc Nozell
70 Prozent der Betroffenen häuslicher Gewalt sind Frauen. - Bild: flickr/ Marc Nozell

zwd Berlin. Häusliche Gewalt in der Bundesrepublik sei „kein Randphänomen“, erklärt die Leiterin der Berichterstatterstelle für geschlechtsbezogene Gewalt am DIMR Müşerref Tanrıverdi im Jahresbericht 2023, der dem Bundestag als Unterrichtung (Drs. 20/ 12395) vorliegt. Laut Bundeskriminalamt (BKA) seien täglich 650 Personen von Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen, bei hoher Dunkelziffer. Im Lande werde „das enorme Ausmaß an häuslicher Gewalt (...) immer noch nicht ausreichend wahrgenommen“, betont Tanrıverdi.

70 Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen sind nach Angaben der Leiterin der DIMR-Berichterstatterstelle Frauen, die meisten Tatverdächtigen Männer. Das Risiko für Frauen und Kinder, tödlicher Gewalt zum Opfer zu fallen, steige während und kurz nach der Trennungsphase im Vergleich zur Zeit des Zusammenlebens auf das Fünffache an. Ebenso fehle das Bewusstsein, dass Gewalt gegen Frauen „keine Privatsache“ sei, sondern der Staat durch die Menschenrechte zum „wirksamen Schutz“ davor verpflichtet sei. Das „Thema Gewaltschutz“ werde auch in rechtlicher Hinsicht bisher nicht hinreichend berücksichtigt, so Tanrıverdi.

DIMR: Strategie im Kampf gegen häusliche Gewalt erforderlich

Grundsätzlich begrüßt das Menschenrechtsinstitut, dass die Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode beabsichtige, auch das Umgangs- und Sorgerecht zu reformieren, dabei sollte die Koalition die an der IK orientierten Empfehlungen des DIMR einbeziehen. Für wirksames Bekämpfen und Prävention von geschlechtsspezifischer wie häuslicher Gewalt brauche man jedoch eine „evidenzbasierte, umfassende und koordinierte Strategie“. Zahlreiche politische wie gesetzgeberische Maßnahmen seien erforderlich, v.a. zur Sensibilisierung der Beteiligten bei Familiengerichtsverfahren, ein Hilfs- und Schutzsystem, das für alle Gewaltbetroffenen zugänglich ist, und „gesellschaftliche Ächtung von Gewalt gegen Frauen".

Im Umgangs- und Sorgerecht fehlen Regelungen zum Gewaltschutz

Auf Grundlage der 2023 vom DIMR veröffentlichten Analyse zu häuslicher Gewalt in Bezug auf das Umgangs- und Sorgerecht kritisiert das Menschenrechtsinstitut, dass hier schon eine Definition des Begriffs fehle. Darüber hinaus ermangele es an Regelungen, die ausdrücklich den Schutz für den von Gewalt betroffenen Elternteil beachten. Als insbesondere problematisch bezeichnet das DIMR Grundannahmen, auf denen die Vorschriften basieren, wie die Vorstellung der „gemeinsamen, kooperativen Elternschaft“ und des beiderseitigen Einigungsgebots der Eltern in Streitfällen.

Das DIMR schlägt vor, erst einmal das geltende Recht konsequent anzuwenden und häusliche Gewalt bei Kindeswohl-Prüfungen in Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht zu berücksichtigen. Damit Beteiligte die „Dynamiken von häuslicher Gewalt“ und deren Folgen für Betroffene besser erkennen, bedürfe es „verpflichtender Fortbildungen“ zu diesem Thema, die sowohl Kinder als auch gewaltbedrohte Elternteile in den Blick nehmen. Den Vorgaben der Istanbul-Konvention (IK) gemäß dürften, um bei Trennung Umgang und Sorge zu regeln, weder das Kind noch der von Gewalt bedrohte Elternteil einer Gefahr ausgesetzt sein. Bei der derzeitigen Interpretation von Kindeswohl sei aber der Schutz des gewaltbetroffenen Elternteils – z.B. bei gerichtlich angeordneten Umgangsvorschriften, die faktisch Kontakt mit dem Gewalttäter erzwingen - nicht genug gewährleistet.

Mitspracherecht bei Umgangsregelungen könnte Kindeswohl stärken

Für das Kindeswohl sei Umgang mit Müttern und Vätern zwar in Trennungsfamilien i.A. eine „geeignete Lösung“, nicht jedoch bei häuslichen Gewaltkonflikten. Das Institut empfiehlt, dass man jeden Einzelfall „sorgfältig ()prüf(en) und ab(wägen)“ müsse. Ein „gemeinsames Umgangs- und Sorgerecht“ sei zunächst dort nicht anzustreben, wo Kinder Gewalt gegen ein Elternteil selbst miterleben oder Gewalterfahrung das Verhältnis der Eltern belastet. Umgang von Kindern mit einem gewalttätigen Elternteil gefährde diese selbst, mahnt das Institut, nicht erst indem sie ebenfalls körperliche Gewalt erleiden, Auch das Miterleben der im häuslichen Milieu verübten Aggression könne sich „negativ auf ihre Entwicklung auswirken“, psychische Gewalt sei IK und UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) zufolge ebenso eine Form von Gewalttätigkeit. Nach Auffassung des Instituts könnte ein Mitspracherecht bei Umgangsregelungen aufseiten der Kinder dazu beitragen, deren Wohlergehen entsprechend der UN-KRK zu gewährleisten.

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