Als 2006 die letzte große Verfassungsreform in Deutschland beschlossen wurde, kam es, was den Bildungsbereich des Grundgesetzes betraf, zu einem denkwürdigen Kompromiss, man kann auch sagen „Kuhhandel“. Bis dahin hieß es im Artikel 914232w2b des Grundgesetzes: „Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung zusammenwirken.“ Diese Bestimmung wurde abgeschafft und durch eine neue Vereinbarung ersetzt: „Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich und bei diesbezüglichen Berichten und Empfehlungen zusammenwirken.“
Das drastisch-dämliche Verbot zur Bildungskooperation von Bund und Ländern ist nun zum Glück allerdings schon längst in weiten Bereichen Geschichte. Und was als eher belangloses Entgegenkommen der Länder gegenüber dem Bund gedacht gewesen ist, hat sich zu einem veritablen, nicht mehr verzichtbaren Instrument der gemeinsamen Bildungspolitik entwickelt. So gibt es mittlerweile wieder milliardenschwere zentrale gemeinsame Kooperationen von Bund und Ländern für alle Abschnitte der Bildungsbiographien, von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung. Sie werden nicht zuletzt im jüngsten, dem kürzlich vorgelegten 10. Bildungsbericht, der seit 2006 von Bund und Ländern im Zwei-Jahres-Abstand erarbeitet wird, ausführlich hervorgehoben und politisch gewürdigt. So dialektisch können Grundgesetzänderungen am Ende wirken, darf hierzu mit leichter Ironie vermerkt werden.
Tatsächlich steht der 10. Nationale Bildungsbericht für eine Entwicklung der auf Indikatoren ausgerichteten empirischen Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens, die es in sich hat. Dies wird gerade am Vergleich des 1. Berichts von 2006 und des 10. von 2024 deutlich. Nicht nur das Volumen ist sehr viel umfangreicher geworden mit anfangs 204 Seiten zu jetzt 372 Seiten. Dazu kommen dann noch viele vergleichende Tabellen in Anhangs-Bänden oder im Netz nach den verschiedenen Kriterien, von Länderdaten und bis hin zu Zeitvergleichen etc. Ist im 1. Bildungsbericht von 2006 noch gar kein gesondertes Kapitel zu den Datenquellen zu finden, so werden jetzt dem Anfang des Berichts von 2024 eine Übersicht und Erläuterung zu über 70 verwendeten und zum Teil detailliert eingearbeiteten nationalen und internationalen Datenquellen umfangreicher Art für alle Bildungsbereiche vorangestellt. Sie zeigen nachdrücklich: Die empirische Bildungsforschung hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Zuwachs erlebt und die Basis für eine an Indikatoren ausgerichtete Analyse der Bedarfe, Wirkungen und Dynamiken von Bildungspolitik wird immer dichter.
Das politische Potential der Nationalen Bildungsberichte besser nutzen
Zugleich ist der Nationale Bildungsbericht, allen Ängsten der föderal fixierten und den auf quasi wissenschaftliche Neutralität ausgerichteten Kultusminister:innen zum Trotz, immer politischer geworden. Das Material, je umfangreicher und tiefgehender die Analysen wurden, ist deutlich stärker strukturiert, zusammengefasst und im Hinblick auf mögliche Perspektiven in der Sache und in den Anforderungen an eine zukünftige Bildungspolitik mutiger zugespitzt. Gerade dieser letzte Punkt war lange umstritten in der Abstimmung der verantwortlichen Autorengruppe mit den Steuerungsgruppen von Bund und Ländern. Aber wenn die so kompetent wie aufwendig erarbeiteten Berichte nicht zu reinen quasi zeitgeschichtlichen Dokumentationen von Bildungsentwicklungen und Problemlagen (und damit zu einem wohlfeilen Basismaterial für eine Vielzahl von bachelor- und masterfähigen akademischen Sekundärstudien) degenerieren sollen, brauchte und braucht es diese Zukunftsperspektiven und politischen Impulse dringlicher denn je.
Die Nationalen Bildungsberichte müssen dann auch die politischer werdenden Prozesse in der KMK flankieren, von der aktuell angestrebten KMK-Reform bis hin zu den zusätzlichen Möglichkeiten der seit 2021 eingerichteten Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK, die ja, wie der Nationale Bildungsbericht auch, ein Instrument zur Förderung von Innovation in allen Bereichen der Bildungsbiographie wie zur Herstellung von mehr Chancengleichheit in allen Landesteilen Deutschlands und zu mehr Homogenität und Konvergenz angesichts wachsender Mobilität ist. Bei der Fülle an Berichten, die im Internet unter dem Label des Nationalen Bildungsberichtes einerseits über internationale Berichte, andererseits über Berichte in den 16 Bundesländern und in den kommunalen Gebietskörperschaften hinaus dokumentiert werden, sollte die Kommission für die KMK jetzt auch dringlich daran gehen, dass gemeinsame und verbindliche Strukturen für die ausufernde Vielfalt der Länderberichte gefunden wird.
Leider machen hier die 16 Bundesländer weiter in alter Manier, dass jeder es landesspezifisch so hält, wie es dem eigenen Belieben am besten passt. Diese eigenen Bildungsberichte der Länder werden weder regelmäßig vorgelegt noch in einer vergleichbaren Form. Während die einen sich zumindest auf die länderbezogenen Daten aus dem Nationalen Bildungsbericht beziehen und diese dann vom zuständigen Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) in Länderberichte verarbeitet werden, pflegen andere Bundesländer hier ihre ganz eigene und dann vor allen Dingen nur auf die Schulen bezogene Berichterstattung. Dabei werden dann die frühkindliche Bildung, die Hochschulbildung wie auch die Weiterbildung weitgehend ausgeblendet. Eine integrierende ganzheitliche Ausrichtung auf die gesamte Bildungsbiographie, für die ja beispielhaft der Nationale Bildungsbericht steht, wird damit landesbezogen gekappt mit dem Ergebnis, dass auch die bildungspolitische Diskussion in den Ländern sich allzu sehr auf die klassische Schulpolitik konzentriert. Gerade diese Fixierung muss in einem innovativen Verständnis der Gesamtbiographie von Bildung jedoch dringlich überwunden werden.
Ein Problem ist auch, dass in den Länderparlamenten im Gegensatz zum Bundestag der Nationale Bildungsbericht allenfalls zur Kenntnis genommen, aber keineswegs diskutiert wird. So sehr vor 2006 darum gerungen wurde, dass der Nationale Bildungsbericht von Bund und Ländern gemeinsam verantwortet, gesteuert und gefördert wird, so wenig haben die Ländern dann offensichtlich ein Interesse daran, dass diese Gesamtbetrachtung des deutschen Bildungswesens in ihren exekutiven wie legislativen Gestaltungsbereich hineinwirkt. Damit werden aber leichtfertig oder gar mutwillig die Chancen verspielt, die im Nationalen Bildungsbericht für eine Stärkung des Bildungswesens im ganzen Land bestehen.
Gleiche Bildungschancen in den Mittelpunkt stellen
Wie wichtig eine solche Debatte sein kann, hat sich in der bildungspolitischen Praxis zuletzt daran gezeigt, dass endlich der unselige Königsteiner Schlüssel, der sich bei der Verteilung von Fördermitteln zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen der Länder und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl richtet, bei dem gerade in Gang gesetzten Startchancenprogramm von Bund und Ländern endlich verändert werden konnte. Der Nationale Bildungsbericht 2024 arbeitet in seiner Zusammenfassung von Trends und Problemlagen die fortbestehenden sozialen und regionalen Disparitäten in allen Bereichen der Bildungsangebote, der Bildungsteilnahme wie der Bildungserfolge sehr genau heraus. Das Startchancenprogramm für die Schulen kann angesichts dieser für Deutschland leider immer noch, auch im internationalen Vergleich, ungleich verteilten Chancen hoffentlich eine Gegenbewegung einleiten. Zu verlangen sind jedenfalls für die Zukunft proaktive statt nur reaktive Initiativen und Maßnahmen zum anhaltenden Um- und Aufbau des Bildungssystems, wie der 10. Nationale Bildungsbericht klarer denn je herausstellt.
Markant wird resümiert: „Große strukturelle Veränderungen über alle Bildungsbereiche hinweg lassen sich in der knapp 80-jährigen Nachkriegsgeschichte vor allen in den letzten zwei Dekaden feststellen.“ (S.23) Nun mag man fragen, ob dieser Zeitraum auch deshalb so groß herausgestellt wird, weil es erst in den letzten zwei Dekaden Nationale Bildungsberichte gibt. Aber dies würde wohl sehr despektierlich gegenüber der Autorengruppe sein. Tatsächlich sind zum Beispiel mit dem massiven Ausbau der institutionellen frühkindlichen Bildung, dem längst überfälligen Aufbau des Ganztagsschulsystems und der ausgreifenden Differenzierung wie Integration gleichermaßen im tertiären Bereich der Hochschulen strukturelle Veränderungen vollzogen worden, die auch in die anderen Bildungssegmente hinaus ausstrahlen werden. Da sind zu nennen die alle Bereiche durchdringende Inklusion, auch wenn der 10. Nationale Bildungsbericht hier aktuell eine Stagnation beschreibt, wie die immer notwendiger werdende Integration von zugewanderten Menschen aller Altersgruppen und schließlich der allzu lange vernachlässigte Weiterbildungsbereich, der angesichts des auch im Nationalen Bildungsbericht dokumentierten massiven demographischen Wandels und der daraus folgenden Qualifizierungsbedarfe immer wichtiger werden wird.
Vergleichbarkeit halten und nachhaltige Schwerpunkte setzen
Es war von Anbeginn an eine gute Entscheidung, die Nationalen Bildungsberichte mit Blick auf die Vergleichbarkeit entlang der Zeitachse mit einer nur sehr sparsamen und jeweils gut begründeten Erweiterung an den Indikatoren durchzuführen. Nur dadurch gibt es hier –über die letzten 20 Jahre und in die Zukunft projiziert – die Möglichkeit, Problementwicklungen in Gesellschaft und Bildungswesen wie Erfolgskontrollen nach Aufwand und Wirksamkeit von Bildungspolitik nachvollziehbar zu machen. Gleichzeitig haben sich die Bildungsberichte aber immer wieder durch das Prinzip eines besonderen Schwerpunktthemas ausgezeichnet, das eine Problemlage besonders herausstellt und vertieft behandelt, um danach dann auch in die einzelnen Fachkapiteln zu den fünf Abschnitten von der Elementarbildung bis zur Quartärbildung integriert zu werden. So ist es mit dem erstmalig aufgerufenen Schwerpunktthema Migration des Bildungsberichtes von 2006 geschehen, das dann 2016 sogar erneut gesetzt worden ist. Angesichts der fundamentalen Bedeutung, die Bildung für die erfolgreiche Integration der anwachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen aus Einwanderung für Deutschland ausweislich des aktuellen Nationalen Bildungsberichts 2024 bekommt, sprechen jetzt schon viele gute Gründen dafür, die Herausforderungen und Chancen von Bildung im Einwanderungsland Deutschland auch für 2026 in Planung zu nehmen.
Weitere Beispiele für solche Schwerpunkthemen, die dann weitergetragen worden sind, ergeben sich aus „Bildung in der digitalisierten Welt“ (2020) und „Bildungspersonal“ (2022). Es ist nicht Phantasielosigkeit, sondern praxisbezogene Analyse und Notwendigkeit, dass die Zuwanderung in die Bildungswelt, die Digitalisierung im Lehren und Lernen, auch mit Blick auf die Erfahrungen mit dem Katalysator Corona-Epidemie 2020 bis 2023, und das Problem der Personalentwicklung und Gewinnung als querliegende Dimensionen in allen Kapiteln des vorliegenden Bildungsberichtes 2024 Berücksichtigung finden. Das wird sicherlich auch mit Blick auf den aktuellen Schwerpunkt zu den verschiedenen Aspekten der beruflichen Bildung dann der Fall werden. Denn dieser „Schlüssel für die Entfaltung individueller Potentiale, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die gesellschaftliche Kohäsion“ kommt doch in der Öffentlichkeit oft zu kurz, wie die Autoren mit Recht kritisch festhalten (S. 3). Hierauf muss gerade eine sozialdemokratisch ausgerichtete Bildungspolitik in der Partei der guten Arbeit viel mehr eingehen. Der Bildungsbericht gibt hier interessante Hinweise, zumal mit dem Bezug zu Einwanderung, die dringlich aufgearbeitet werden müssen.
Die frühkindliche Bildung im Fokus 2024 und darüberhinaus
Gleichzeitig hat der 10. Nationale Bildungsbericht mit dem Fokus auf die frühkindliche Bildung einen besonderen Akzent gesetzt, der in einer Gesamtkonzeption von Familien-, Gleichstellungs-, Sozial- und Bildungspolitik aufzunehmen ist. Stärker als in allen anderen Bildungsberichten wird herausgearbeitet, dass die Familie der erste und bis weit in die Kindheit hinein der zeitlich umfassendste und damit zumindest anfänglich wichtigste Bildungsort für Kinder ist (S. 90). Als Eltern-Kind-Aktivitäten, die gegenwärtig den größten Anteil an solcher familiärer Bildung konkret abbilden, werden das Vorlesen und gemeinsame Sprechen darüber identifiziert und in seinen Potentialen herausgestellt. Es ist nicht nur aufrüttelnd, sondern auch zugleich wohltuend, dass ein Nationaler Bildungsbericht einen solchen elementaren Punkt wie das häusliche Vorlesen derart klar in den Mittelpunkt rückt. Für die Zukunft kann es nur heißen: Bitte mehr davon! Die Daten zu dem Umfeld von mehr oder weniger Lesetagen in den Familien sind zugleich ein starkes Plädoyer für den gezielten Ausbau von familialen präventiven Unterstützungsangeboten, von Stärkung der Bildungskraft in den Familien (und sei es durch eine wirksame Kampagne für die Erhöhung der Zahl der Vorlesetage) und die nachhaltige Entwicklung und Sicherung von Qualität in der pädagogischen Arbeit in den Kindertagesstätten.
Kai Maaz, verantwortlicher Sprecher der Autorengruppe des Nationalen Bildungsberichts, hat hierzu kürzlich einen bemerkenswerten Anstoß für das Zusammengehen von Familienpolitik und Bildungspolitik gegeben, wenn er in der TAZ vom 19.6.2024 feststellt: „Das Startchancen-Programm ist aus meiner Sicht das beste Programm seit Langem. Bund und Länder nähern sich der Chancenungleichheit nicht nur projektbezogen, sondern zum ersten Mal systemisch an.“ Und weiter: „Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt mit den Schulen starten – aber in den Familienministerien schon darüber nachgedacht wird, wie solche systemischen Angebote für die frühe Bildung aussehen können.“ Jetzt muss nur noch dafür gekämpft werden, dass nicht nur die brillante Datenanalyse im Nationalen Bildungsbericht 2024 für einen solchen systemischen Kampf gegen Ungleichheit der Bildungschancen von Anfang an zur Verfügung steht, sondern dass auch der politische und gesellschaftliche Einsatz für eine Verbesserung in der Praxis vorankommt. Die Nationalen Bildungsberichte 2026 und 2028 sollten hier erste Erfolge berichten können.
Ein nachdrückliches Plädoyer für mindestens weitere 10 Berichte
Im Übrigen kann jetzt –18 Jahre nach dem 1. Nationalen Bildungsbericht im Jahr 2006 – mit dem 10. Bericht mit Fug und Recht das Resümee gezogen werden: Wenn es die Nationalen Bildungsberichte noch nicht geben würde, dann müssten sie jetzt erfunden werden: als Instrument der Diagnose zum Zustand der Bildungsrepublik Deutschland wie als Grundlegung für eine fortschrittliche Bildungspolitik der Chancengleichheit und Zukunftsfähigkeit.
Erstveröffentlichung im zwd-POLITIKMAGAZIN 404