zwd-HERAUSGEBER HOLGER H. LÜHRIG
ÜBER MACHT-SZENARIEN NACH DEM 23. FEBRUAR
: Der Wind, der aus Weimarer Zeiten über Deutschland hinwegweht

3. Februar 2025 // ticker

Im zwd-POLITIKMAGAZIN Ausgabe 406 hat zwd-Herausgeber Holger H. Lührig die Situation und die Konsequenzen nach dem AfD-Tabu-Bruch des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz beleuchtet und mögliche Szenarien nach der Wahl vom 23. Februar skizziert. Seine These: Auch bei einer Unionsmehrheit hat Merz nur geringe Chancen, ohne die Mitwirkung der AfD zum Kanzler gewählt zu werden. Er hat das auf dem Wahlparteitag der Unionsparteien zwar ausgeschlossen. Aber die Glaubhaftigkeit seiner Worte ist ramponiert.

Wie der Wind aus Weimarer Zeit mit den Medien durch das Land weht und das Wahlvolk verunsichert

Es sind trübe Zeiten, in denen dieser Winterwahlkampf zur Bundestagswahl stattfindet. Die BILD-Zeitung liefert tagein, tagaus die Schlagzeilen, mit denen sie die verbliebenen Ampel-Parteien SPD und Bündnis '90/Die Grünen als "Schuldigen" am Niedergang von Deutschland anprangern. Und jetzt aktuell, weil Rot-Grün das fragwürdige Spiel des Friedrich Merz nicht mitspielen wollten und es ihm überließen, statt der erhofften Verständigung unter den demokratischen Parteien im Bundestag Mehrheiten mit der AfD in Kauf zu nehmen, um seine Ziele durchzusetzen.

Rechtsstaatliches Handeln statt populistischer Symbolpolitik

Da sind es wieder die Parteien SPD und Grüne, denen die Springer-Blätter gemäß dem Sing-Sang der Union die Verantwortung zuschieben mit der Darstellung, diese seien nicht für einen schärferen Kurs in der Migrationsfrage zu haben gewesen. Diese Falschbehauptung wird inzwischen auch von anderen Medien weitertransportiert. Vernachlässigt wird beim Schlechtreden in den Medien die Tatsache, dass die Vorlage der Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz, die nationale Beschlussfassung über die Reform der Europäischen Asylgesetzgebung (GEAS) im Bundestag herbeizuführen, in dieser Legislaturperiode noch möglich wäre, wenn es die Union ernstlich wollte. Sie würde dazu beitragen, dass weniger Menschen nach Europa und Deutschland kommen. Das gilt ebenso für das Bundespolizeigesetz, mit dem SPD und Grüne zusätzliche Befugnisse der Bundespolizei eröffnen wollten. Auch die Verabschiedung dieses Gesetz wäre sofort möglich, droht aber wegen des wahltaktischen Verhaltens der Unionsparteien im Bundestag zu scheitern. Gerade die Grünen werden für die unzulängliche Abschiebepraxis verantwortlich gemacht, weil sie auf einem effektiven Grundrechtsschutz bestehen und (wie die SPD mit Bundeskanzler Olaf Scholz) rechtstaatliches Handeln statt populistischer Symbolpolitik einfordern.

Aufklärung von Behördenversagen in Bayern, Sachsen-Anhalt und NRW

Dass in den letzten Fällen ausländische Täter nicht rechtzeitig abgeschoben wurden, liegt jedoch nicht an der Bundesinnenministerin oder der Bundesaußenministerin, sondern an inländischem Behördenversagen. Ob Bayern, Sachsen-Anhalt oder Nordrhein-Westfalen: Es waren psychisch kranke Täter, die tatsächlich längst hätten abgeschoben sein können. Warum nicht, das aufzuklären ist zuerst Aufgabe der CSU- und CDU-regierten Länder, in denen die Täter ihre Mordtaten vollbracht haben. Aber das passt ja nicht in die Wahlkampfstrategie von Söder und Merz, die von der Mitverantwortung der Behörden in diesen Ländern abzulenken versuchen. Bei deutschen Staatsbürgern – aktuell ein psychisch kranker Sohn, der seinen Vater umgebracht hat – wird nicht nach Behördenversagen gefragt. Es ist einfacher, diesen Vorgang als „Einzelfall“ eines „psychisch Kranken“ abzuhaken.

Mit Millionen-Auflagen und Social-Medien-Kampagnen wird Deutschland systematisch schlecht geredet

Seit den durchgestochenen ersten Habeck‘schen Überlegungen zu einem Heizungsgesetz haben die Springer-Blätter mit millionenfacher Zeitungsauflage und Online-Verbreitung Stimmung gemacht – zuerst gegen Habeck, dann gegen die Grünen, schließlich mit gefälliger Unterstützung des FDP-Chefs Christian Lindner gegen die "Linken" in der Ampel und das Regierungsbündnis insgesamt. Deutschland wurde seitdem bei jeder Gelegenheit schlechtgeredet, zum „Absteigerland“ herunterpubliziert, getreu dem (ironisch gemeinten) Rudi-Carrell-Song „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“. Wenn der verregnet, ist klar: "Denn schuld daran ist nur die SPD". Nur, dass zusätzlich nun auch die Grünen mehr denn je – dank Bayerns Söder-Diktum – in den Fokus gerückt werden. Die tatsächlichen Leistungen der Ampel-Koalition werden ignoriert, mit denen die Regierung Scholz wie keine andere Bundesregierung konfrontiert war und die sie angepackt hat (vs. Russlands Angriffskrieg, vs. die weltweit erzeugten Strukturkrisen mit Folgen für die unzulänglich aufgestellte deutsche Wirtschaft, vs. der Investitionsstau nach einer jahrzehntelangen vernachlässigten Infrastruktur). Als wäre die Ampel untätig gewesen, ruft die Wirtschaft mit der FDP nach staatlichen Hilfen, ohne dass gesagt wird, wer die Zeche am Ende bezahlen soll.

„Und schuld ist immer die Ampel“

So ähnlich gipfelt die Meinungsmache, wie sie die BILD-Zeitung nach dem Scheitern von Merz‘ Gesetzentwurf verbreitet, in der Überschrift: "Sie machen Politik gegen den Willen des Volkes" (siehe nebenstehenden Bild-Ausschnitt). Der Sommer, den Carell besang, kommt bestimmt. Aber wenn die "Anständigen" (wie es die SPD nennt) nicht mobilisiert werden können, könnten wir einen schlechten Sommer bekommen – als Folge der Bundestagswahl am 23. Februar.

Noch unterstellen die Meinungsmacher und schreiben es geradezu herbei, dass die Sozialdemokrat:innen – nach erheblichen Verlusten auf dem dritten Platz einsortiert – ähnlich wie 2017 als Junior-Partner in eine von Friedrich Merz geführte Bundesregierung einzutreten haben. Auch nach dem Merz-Destaster wird gern kolportiert, trotz der heftigen und teilweise verleumderischen Angriffen im Bundestag seien die Parteien der „demokratischen Mitte“ im Bundestag untereinander noch „gesprächsfähig“.

20 Gesetze und weitere Anträge zwischen dem 29. und 31. Januar verabschiedet

Tatsächlich haben nach dem Ampelbruch SPD und Grüne mit CDU und CSU sowie gelegentlich auch mit der FDP in den letzten Wochen noch eine Vielzahl von Gesetzesvorlagen beschlossen, teilweise solche, die erst nach dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition von der Bundesregierung dank einer Neubewertung durch Bunddesfinanzminister Jörg Kukies (SPD) im Bundestag eingebracht werden konnten. Allein in den letzten drei Plenarsitzungen (vom 29. bis 31. Januar) konnten so 20 Gesetzentwürfe im Bundestag verabschiedet werden. Die Mehrheits- und Kompromissfähigkeit unter den demokratischen Parteien gebot es, dass die Unionsparteien eine Reihe von Änderungswünschen dabei hatten durchsetzen können. Aber es waren und blieben Gesetze von Rot und Grün. Nur in einem Fall ist ein Entwurf der Unionsparteien Gesetz geworden – Neuregelungen zum Mutterschutz nach einer Fehlgeburt. Damit konnten sich auch SPD und Grüne identifizieren. Anders im Falle des Opferschutzes, wo die Union ihren eigenen Gesetzentwurf am Ende selbst blockiert hat (worüber wir gesondert berichtet haben).

Geht noch was?

Ob nach dem Merz-Desaster die Unionsparteien noch fähig sind, bei einigen Gesetzgebungsvorhaben über ihren Schatten zu springen oder zumindest eine Behandlung im Plenum zu ermöglichen, wird davon abhängen, ob die Unions-Strateg:innen staatspolitische Verantwortung über ihre Parteistrategie stellen, der rot-grünen Minderheit keine Erfolge zu gönnen. Die Mehrheit des Bundestages wäre jederzeit in der Lage, noch den einen oder anderen Sitzungstag anzuberaumen.

Spätestens seit dem von Merz auf dem Wahlparteitag von CDU und CSU am 3. Februar eingebrachten Sofortprogramm sollte aber klar sein, dass mit diesem Programm eine Koalition unter der Führung von Merz für Sozialdemokrat:innen und Grüne in weite Ferne gerückt ist. Auf die Freien Demokraten kann Merz als Mehrheitsbeschaffer:innen nicht setzen, zumal der FDP-Vorsitzende Lindner ein Zusammengehen mit den Grünen per se ausgeschlossen hat – mal unterstellt, die Liberalen schaffen überhaupt noch den Einzug in den Bundestag.

Ausblick auf die Zeit nach dem 23. Februar?

Wahlprognosen können daneben liegen, das Nachdenken über den Tag nach der Bundestagswahl ist trotzdem angesagt, weil die Szenarien hierzu – mehr noch als die Wahlprognosen – wahlentscheidend sein können. Die nachfolgenden Szenarien unterstellen, dass die Unionsparteien weniger als 30 Prozent bekommen, die AfD deutlich mehr als 20 Prozent. Die SPD und die Grünen landen auf den Plätzen 3 und 4 und die Kleinstparteien FDP, BSW und Linke, werden, falls sie in den Bundestag einziehen sollten, keinen mehrheitsbildenden Faktor darstellen. Ohnehin darf bei den Szenarien nicht unterschlagen werden, dass das Abstimmungsbündnis mit der AfD, das der CDU-Chef angestoßen hat, nicht nur von großen Teilen seiner Fraktion getragen wurde, sondern auch von der FDP (mit 67 von 90 FDP-Abgeordneten) und vom BSW (7 von 10 Abgeordneten), angeführt von Sarah Wagenknecht. Auch hatte bei der Mehrheitsbildung mit Hilfe der AfD keine Berührungsängste.

Szenario I:

Die Union wird stärkste Partei, erreicht unter Merz aber ein noch schlechteres Ergebnis als in der Ära Merkel. Die AfD wird, weil sie der Union unterstellt, sie habe in der Migrationspolitik von ihr abgeschrieben, "als Original" gewählt und damit zweitstärkste Partei, weit vor SPD und Grünen. Dass schwächt Merz' Kanzler-Ambitionen. So könnte es, wenn FDP, BSW und Linke den Einzug in den Bundestag verfehlen, zu einem Vier-Parteien-Parlament kommen. Was dann? SPD und Grüne haben nach dem historischen Bruch aufgrund der Abstimmung vom 29. und 31. Januar keine Bereitschaft mehr, Merz zum Kanzler zu wählen (noch weniger Markus Söder).

Merz könnte also, wenn ihn nicht der Bundespräsident oder mächtige Parteifreunde ausbremsen, entgegen seinen Beteuerungen auf dem CDU/CSU-Wahlkongress am 3. Februar versucht sein, eine Minderheitsregierung zu bilden, getreu dem Muster, wie er es mit der Abstimmung über seinen 5-Punkte-Plan praktiziert hat hat. Motto: Wer mich in geheimer Wahl zum Kanzler wählt, ist mir egal: es guckt ja niemand auf die Stimmzettel, da schau ich weder nach rechts noch nach links, sondern nur geradeaus (oder anders gesagt: mit Tolerierung der AfD). Bald danach, wenn diese von Merz geführte Regierung (erwartungsgemäß) scheitert, würde Merz das Volk erneut zu den Wahlurnen zu rufen, um sich als Heilsbringer gegenüber dem „parlamentarischen Chaos“ in Stellung zu bringen. Allerdings ist Merz nicht so mächtig wie Trump (wenn auch kaum weniger wechselhaft), um sich als letzter Retter des Abendlandes zu präsentieren. Er würde, wie schon in diesen Tagen, mit massivem zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen müssen und bekäme es außerdem bei einer erneuten Bundestagswahl mit Persönlichkeiten anderen Kalibers als Konkurrent:innen zu tun, die ihm eine Kanzlerschaft streitig machen.

Szenario II

Nach einer verlorenen Wahl werden sich Sozialdemokrat:innen oder Grüne nicht wie die SPD 2017 vom Bundespräsidenten in eine Koalition mit CDU und CSU zwängen lassen. Denn die teilweise frustrierte Mitgliederbasis würde beiden Parteien mehr als schon jetzt schon von der Fahne gehen. Zwangsläufig werden beide Parteien mit (nicht gänzlich) neuem Personal und ebenbürtig in die politische Debatte gehen (müssen), ob sie bei der SPD nun Pistorius, Rehlinger oder anders heißen (bei den Grünen ist das noch nicht absehbar).

Die Union wäre um den Preis einer Koalition mit den anderen demokratischen Parteien ebenfalls gezwungen, sich in Richtung auf eine Nach-Merz-Ära neu aufzustellen (besonders, wenn das Wahlergebnis weit unter dem schlechtesten Ergebnis von Angela Merkel bliebe und die AfD deutlich über 20 Prozent käme – was Merz und Söder mit ihrer politischen Strategie ja eigentlich verhindern wollten). Die CDU müsste sich auf ihre "Mitte"-Qualitäten zu besinnen, wie sie einige CDU-Ministerpräsidenten immerhin verheißen. Im Bundesrat haben die Regierungschef:innen aller drei demokratischen Parteien (CDU, CSU, SPD und Grüne) vielfach gut und besser als die Fraktionen im Bundestag zusammengearbeitet; sie haben oft an einem realpolitischen Strang unter Zurückstellung partei-egoistischer Interessen gezogen. Ohne den jetzt mit AfD-Makel noch weniger beliebten Merz entstünde eine andere Lage, woran die Unionsstrategen einstweilen vor dem 23. Februar noch nicht denken mögen (aber wohl sollten). Nicht von ungefähr hat SPD-Chef Lars Klingbeil am 2. Februar festgestellt: „Der Graben zu Friedrich Merz ist größer geworden“. Heißt: Mit „dem“ werden die Sozialdemokrat:innen jedenfalls nicht (mit)reagieren wollen.

Zu diesem Szenario passen die Erinnerungen, wie CDU und CSU 1966 ihren Kanzler Ludwig Erhard (nach dem Abgang der FDP) im Interesse ihres Machterhalts abgehalftert und zugunsten einer Großen Koalition mit der SPD durch den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger ersetzt haben. Oder auch, wie die CDU 1973 ihren bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 (Wahlbeteiligung 91 %!) unterlegenen Kanzlerkandidaten Reiner Barzel zugunsten des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl zur Seite schob. „Abgerechnet wird nach der Wahl“, schrieb der Tagesspiegel am 03. Februar, dem Tag, an dem die Unionsparteien ihren Kanzlerkandidaten nochmals feierten. Auch das gehört zu diesem Szenario.

Drei Wochen bis zur Bundestagswahl – es kann noch viel passieren. Aber eines sollten alle im Wahlkampf Engagierten bedenken. Der 24. Februar kommt bestimmt. Und die Aufgabe, die Rechtsnationalen und Rechtsextremisten in die Schranken zu weisen, ist jetzt und dann die erste Bürger:innen-Pflicht. Insofern rücken nun solche Szenarien ins Blickfeld, wer mit welchen Politiker:innen Deutschland regieren könnte.

Die Rolle der Medien

Aber es gilt auch, regelmäßig mit einem Faktencheck die Medien-Berichterstattung zu hinterfragen. Unverkennbar ist, wie sich die Springer-Blätter WELT und BILD zum Sprachrohr der „nationalen Rechten“ aufgeschwungen haben (Vgl. Werbung für die AfD durch den Gastbeitrag von Elon Musk). Das erinnert schon an die letzten Jahre der Weimarer Republik, als der Presse“zar“ Alfred Hugenberg mit seiner Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) zum Wegbereiter der „nationalen Rechten“ und der Nationalsozialisten wurde. Die Rolle, die der Springer-Chef Mathias Döpfner spielt, weckt jedenfalls solche Erinnerungen.

Die Bereitschaft (auch öffentlich-rechtlicher Medien), der AfD ein Forum zu bieten – vielleicht auch nur, um sie vorzuführen -, erfolgt aus falsch verstandener „Neutralität“ gegenüber Demokratiefeinden. Zu bedenken ist: Eine „schlechte“ Presse ist besser als gar keine, sie wird von Demokratiefeinden dankbar angenommen. Falsch ist anzunehmen, die mit Miosgas, Illners oder Maischbergers gut gemeinten, aber schlecht gemachten Diskussionsdesigns könnten ernsthaft dazu beitragen, AfD-Wahlentschlossene von ihren Abstimmungsvoten abzubringen. Dafür ist jedenfalls die Argumentationsfähigkeit mancher Gesprächspartner:innen zu schwach.

Oder der Wind, der aus Weimarer Zeiten über Deutschland hinwegweht, ist bereits zu stark.

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